Zurück in die Zukunft

Bild von Tom auf Pixabay

Es fing damit an, dass ich damit aufhörte – mit dem Rauchen. Irgendwas musste passieren. Mit Mitte Dreißig fühlte ich mich fett und einfach nicht fit genug. Ich kam schnell ins Schnaufen, wenn ich mich anstrengte. Und auch, wenn ich mich nicht anstrengte. Da erinnerte ich mich daran, wie gut ich in der Schule war, wenn es ums Laufen ging. Und dann zog ich mir eines Tages meine alten Turnlatschen an und machte ich mich alleine auf in den Wald, wo mir beim Schnaufen erst mal keiner zusehen sollte. Damals in der Schule, das war jetzt zwanzig Jahre her. „Du hast einen klasse Laufstil!“, schrie mir der Sportlehrer hinterher und das reichte schon aus, um mich zu motivieren. Ich war von Anfang an gut und ich wurde auf den Mittel- und Langstrecken immer besser. In meiner Klasse lief ich sowieso allen davon und später auch allen in meiner Schule und schon bald war niemand mehr da, der es in meiner Altersklasse überhaupt noch mit mir aufnahm. Auf den langen Strecken teilte ich mir die Kraft ein wie sonst keiner. Wenn die anderen mich überholten, machte ich mir nichts draus, weil ich wusste, dass ich sie zum Schluss nochmal kassierte. Über all das dachte ich nach, als ich anfing, über den Waldboden zu traben, einen Laufschritt vor den anderen zu setzen. Und noch was fiel mir ein. Fünfzehn Jahre, so las ich es, soll es dauern, bis die Lunge wieder rein ist von all dem Dreck, den ich mir eingepfiffen hatte. Fünfzehn Jahre. Ich müsste also laufen bis Anfang Fünfzig und dann sollte alles wieder klar und fein und rein sein. Und obwohl mir schon nach fünf Minuten die Puste aus ging, schien mir das trotzdem realistisch. So war es irgendwie immer. Nichts war unmöglich. Was mir denkbar schien, zog ich auch durch.

Geruchs- und Geschmackssinn kamen ziemlich schnell wieder zurück und auch die ersten Erfolge beim Laufen, aber es dauerte ganz schön lange, bis ich mal dreißig Minuten schaffte. Dann war ich platt und keuchte wie ein Nilpferd. Obwohl ich von früher wusste, wie viel mehr möglich ist, war das monatelang das Maximale, was ich rausholte. Zwanzig Jahre lang die Lungen vergiften, das war einfach zu lange, um so zu tun als ob nix war. Bis ich mir dann neue Laufschuhe kaufte, vergingen Monate. Ich hatte immer noch meine alten Sportklamotten an, zum Beispiel diese glänzenden, kurzen Adidas-Hosen mit den drei Streifen, wie sie in den Achtzigern alle Fußballer trugen. Und ein x-beliebiges T-Shirt aus Baumwolle, das mir klatschnass am Körper klebte. Aber es war mir auch egal, wie das aussah. Was zählte war, dass ich mich bewegte. Zwei bis drei Mal die Woche trabte ich im Wald, als ob ich mich für größere Aufgaben qualifizieren würde und das gab mir ein gutes Gefühl. Ich war fest entschlossen, das mit dem Teer und den Giften und dem Dreck wieder rückgängig zu machen und ich war ehrgeizig, aber ich konnte damals noch gar nicht wissen, wie viel hunderte Kilometer mir noch bevorstehen. Es hätte mich auch demotiviert, keine Frage. Und als der Winter kam und ich die kalten Monate über aussetzte, ging es schon besser mit der Luft. Drei oder vier Etagen im Treppenhaus? Kein Problem. Und als der Frühling wieder kam, da zog ich meine Latschen und meine Adidashosen an und rannte durch den Wald.

Wenn ich für längere Zeit nicht zu Hause war, nahm ich meine Laufklamotten mit und lief andere Strecken, die Weser oder den Main entlang, durch die Heide oder am Ostsee-Strand, je nachdem wo ich gerade war. Das machte sogar ganz besonderen Spaß, weil ich gleichzeitig Neues entdeckte und ich stellte fest, dass ich erheblich länger durchhalte, wenn ich mich ablenken kann. Im dritten Jahr kaufte ich mir eine Pulsuhr und beobachtete fortan, wie sich meine Ausdauer veränderte. Die neuen Sportklamotten, die ich jetzt hatte, bewirkten eine ganze Menge. Zwar wurde ich dadurch kein bisschen schneller, aber allein sie schon anzuziehen und damit irgendwie professionell und sportlich zu wirken, motivierte mich. Ich begann, die Strecken und Laufzeiten zu messen und wie sich der Puls dabei veränderte. Eine Stunde am Stück war jetzt problemlos möglich und wenn mir meine Knochen nicht weh getan hätten, wäre ich schon zu der Zeit glatt noch weiter gelaufen. Auf diesem Niveau lief ich jahrelang – immer im Glauben, dass es nicht länger als eine Stunde sein darf, aber irgendwann stellte ich fest, dass ich zu schnell lief. Ich wollte mir das gar nicht eingestehen, weil ich doch so sportlich sein wollte und auch so irre lang brauchte, um das zu erkennen. Es kam kein bisschen darauf an, wie schnell ich eine Strecke von A nach B schaffte, so wie es damals in der Schule noch war. Abgesehen davon, dass es sowieso kein Schwein interessierte. Es kam nur darauf an, wie lange mein Puls okay war.

Von jetzt an diktierte mein Puls, wie schnell ich lief. Solange er sich im Wohlfühlbereich bewegte, lief ich einfach immer weiter. Weitaus langsamer als früher. Aber von nun an war es egal, wie lange die Strecke war, so lange die Gelenke oder die Knie nicht weh taten. Erstaunlicher Weise taten sie nie weh, solange ich mich beim Laufen wohl fühlte. Außerdem stellte sich jetzt das Gefühl ein, dass ich überhaupt nicht mehr über Anstrengung nachdachte. Nach dem Start dachte ich über alles Mögliche nach und ab einem gewissen Zeitpunkt über gar nichts mehr. Es fiel mir überhaupt nicht mehr auf – es lief einfach so von selbst. Und so rannte ich eine Stunde, 70 Minuten, 80 Minuten, 90 Minuten und dachte: Jetzt läufst Du schon so lange, wie ein Fußballspiel dauert. Erste Halbzeit der Verlängerung, zweite Halbzeit der Verlängerung, Elfmeterschießen, plötzlich alles kein Problem mehr. Aber nach zweieinhalb Stunden wusste ich dann nicht mehr wohin und irgendwann wurde es ja auch wieder dunkel. Wenn ich Forrest Gump schon gekannt hätte, hätte ich wahrscheinlich nicht mehr damit aufgehört, auch wenn es gar keinen Sinn mehr ergab.

Nun, da ich nicht Forrest Gump bin und jede Geschichte auch ein Ende hat, brachten mich die Lebensumstände und eine späte Meniskusverletzung doch noch zum Anhalten, aber inzwischen laufe ich wieder und mit der Erfahrung so vieler Jahre macht es auch wieder Spaß. Zwar fühle ich mich wieder an meine Anfangszeiten erinnert, weil die Laufzeiten meist recht kurz sind, aber wer weiß? Die fünfzehn Jahre Lungenreinigung sind ja auch längst vorbei und schon fast noch fünfzehn Jahre mehr. Und die Moral von der Geschichte ist nicht der Sport, um Himmelswillen! Es ist mir egal, ob Ihr zuhause auf der Couch rumlümmelt oder einen Marathon nach dem anderen abreißt. Das Ding ist einfach, dass du rechtzeitig erkennst, dass die Scheiße ganz schön tief wird, in die du dich manövrierst. Und dann lohnt es sich einfach, drauf loszulaufen.

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