Ziemlich beste Freunde

Ziemlich beste Freunde kamen und gingen andauernd. Ich lernte schnell welche kennen und oft folgten darauf intensive Phasen, in denen ich sie quasi täglich sah und plötzlich waren sie wieder weg. Das passierte mir so häufig, dass ich eine Liste meiner besten verschwundenen Freunde führte. Ich würde zu gerne wissen, was aus ihnen geworden ist, an was sie sich erinnern und vor allem, wie sie sich an mich erinnern. Aber das Bild hängt schief, oder? Thilo war einer davon. Ich war 17, als er Mitte der zehnten Klasse auftauchte und er verschwand fast genau ein Jahr später wieder, als ich mich gerade durchs erste Lehrjahr quälte. Kurz nachdem wir es gemeinsam mit einem ganz besonders heftigen Stunt überzogen hatten. Und wir brachten es auf erstaunlich viele Stunts.

Ein relativ harmloser war, dass wir uns das Geld fürs Busfahren sparten. Immer wenn einer von uns beim Schwarzfahren erwischt wurde, hatten wir keinen Ausweis dabei, weil wir wussten, dass die Kontrolleure einen dann immer ausfragten: wo man wohnt und wann man geboren wurde und in welcher Stadt und wie die Postleitzahl ist oder die Mutter heißt oder sowas. Das reichte denen immer als Nachweis aus: Die Daten waren korrekt, sofern wir sie ohne Stottern und selbstbewusst erzählten. Also lernten wir jeweils vom anderen eine kurze Vita auswendig, die gerade noch soweit stimmte, dass der Brief zugestellt werden konnte, auch wenn die Hausnummer falsch war und der Vorname nicht stimmte – und der Geburtstag ohnehin nicht. Wenn dann die Forderung fürs Schwarzfahren kam, reichte es aus, mit dem echten Ausweis nachzuweisen, dass jemand offensichtlich falsche Daten angegeben hatte. Funktionierte jedes Mal. Erst viel später fiel mir auf, dass wir auch mit völlig erfundenen Personen durchgekommen wären, aber es schien uns so viel cooler: Die Kontrollettis waren fein raus, wir waren fein raus, die Erfolge waren bestens dokumentiert und es machte einfach Spaß, auf diese Art kostenlos zu fahren. Außerdem sparte es Geld, das wir fürs Rauchen und Trinken dringend brauchten.

Thilo hatte noch andere gute Ideen. Er rauchte ziemlich teure Filterzigaretten und er hatte eine Art zu rauchen, die ungemein cool aussah, indem er die Kippe zwischen Daumen und Mittelfinger führte und die anderen drei Finger nach oben abspreizte, wie er es bei Alain Delon gesehen hatte. Und ich weiß nicht, ob er damit der Erste im Ort war, aber plötzlich machten es irgendwie alle so. Weil wir an der Grenze wohnten und die Fluppen in Frankreich nur die Hälfte kosteten, eröffneten wir ein florierendes Importbusiness, indem wir fürs Schmuggeln einen geringen, aber gerechten Gefahren-Aufpreis kalkulierten. Auf diese Art und Weise verdienten wir ordentlich mehr als unsere Mitschüler, die sich mit Zeitung-Austragen über Wasser hielten. Es finanzierte uns den Aufenthalt in Spielsalons und Kneipen, in denen wir schon nach dem zweiten gemeinsamen Bier die fantastischsten Ideen hatten. Die Ideen flogen uns nur so zu. Eine ganze Weile lang funktionierten sie auch prächtig, aber dann ging es doch immer wieder schief. Und es traf immer mich. So wie an dem Abend, als mir kurz vor Geschäftsschluss der französischen Tabakläden noch brühwarm einfiel, dass ich am nächsten Morgen 25 Stangen in unserem Ausbildungsbetrieb verteilen sollte, für die ich bereits das Geld kassiert hatte. Und weil ich es eilig hatte und es auch schon komplett dunkel war, verließ mich mein siebter Sinn auf dem Rückweg, als ich mit dem Fahrrad wie ein Kaninchen über den Acker an der grünen Grenze hoppelte. Ich sah den VW-Bus am Waldrand, aber hielt ihn für den des Försters, was sich als folgenschwerer Irrtum rausstellte. Beim Amtsgericht kassierte ich dann 20 gemeinnützige Arbeitsstunden und musste im Altersheim den Speisesaal malern.

Wir hatten noch mehr von diesen Geistesblitzen auf Lager. Aber komischer Weise musste ich jedes Mal die Suppe auslöffeln, selbst wenn wir sie gemeinsam verschütteten. Wie in jener Nacht, als ich das Schild am Ortseingang abschraubte, weil wir ein gutes Geschenk für den Gastgeber der Party brauchten, wohin wir unterwegs waren. Es war wirklich ein außergewöhnlich schönes und originelles Geschenk, dieses „Saarbrücken – Landeshauptstadt“ und passte in jedes Zimmer als prächtigen Blickfang. Keiner brachte solche tollen Geschenke mit und das wussten wir, aber nachdem wir die ersten sechs Geburtstagskinder versorgt hatten, ging uns das Material aus. Die Stadt war zu langsam in der Produktion neuer Mitbringsel und so mussten wir an einer ziemlich befahrenen Straße ran, was mir prompt 20 neue Arbeitsstunden im Altersheim einbrachte. Thilo war einfach schneller in seinen Reaktionen und rechtzeitig über die Böschung abgehauen, als er die Grünen entdeckte, während ich noch fleißig am Schrauben war.

Wenn wir gerade keine Geschäfts- oder Geschenkideen hatten, hörten wir AC/DC im Wagen seines Alten, der viel Kohle zu haben schien und oft auf Geschäftsreisen unterwegs war, während seine fette Karre ungenutzt vor der Tür stand und eines Abends schlug ich ihm vor, damit einfach loszufahren. Vielleicht war es der Einfluss von „Hells Bells“ oder vielleicht auch nur ein Gedankenfurz, aber es schien uns ziemlich verlockend, rauchend durch die Stadt zu cruisen, bei offenen Fenstern und mit einem ordentlichen Wumms aus dem Stereo. „Da fliegt mir doch das Blech weg!“, schrien wir den alten Spliff-Song mehr als wir sangen und damit war es eigentlich auch schon beschlossen. Außerdem hatten wir gerade mit den ersten Fahrstunden begonnen und brauchten dringend etwas Fahrpraxis. Wir ließen die Karre ein paar Meter den Berg runterrollen, starteten sie und ab ging die Post. Abgesehen davon, dass wir schon einen in der Krone hatten, war es harmlos. Wir versuchten nicht aufzufallen, indem wir uns an die Verkehrsregeln hielten, wir fütterten den Stereo mit angesagter Musik und sangen mit was das Zeugs hielt. „Ich möchte ein Eisbär sein – am kalten Polar!“ Es war easy. Wir ließen das Auto durch die Stadt rollen, flossen mal hier und mal da hin, wechselten nach einiger Zeit die Plätze und während sich der Beifahrer um Zigaretten und Musik kümmerte, wählte der Fahrer das Sightseeing.

Beim nächsten Mal wartete ich auf eine günstige Gelegenheit, unseren Fuhrpark zu erweitern und kam mit dem Fiat oder dem Kadett von zuhause an und wir fuhren dann damit unsere Runden. Einmal sah mich noch die Nachbarin davon fahren und ich hielt an, kurbelte die Scheibe runter und sagte ihr, dass ich nur nochmal schnell zur Tanke fahre, um Zigaretten zu besorgen. „Lasst Euch nicht erwischen“, rief sie. Sie war in Ordnung. Was um alles in der Welt sollte auch sein? Wir waren 17, wir waren jung und stark, wir hatten den Kopf voller Flausen und Musik und Mädchen und nachts brav zuhause zu schlafen, um anderntags in die Schule zu gehen, kam überhaupt nicht in Frage. Wir besprachen auch jede Menge Schulzeugs während unserer Fahrten, um uns gegenseitig abzusichern, wie wir die Ausreden für den anderen Morgen gestalten. Die guten Themen gingen einfach nie aus. Oft hatten wir schon ein oder zwei Bier drin, bevor wir starteten, um dem Ganzen einen weiteren Kick zu geben. Wenn wir vor oder hinter einem Polizeiwagen an der Ampel standen, wurde es besonders spannend. Im Rückspiegel der Polizisten versuchten wir so cool und erwachsen wie möglich hinterm Steuer zu wirken und wenn sie uns folgten, starteten wir kerzengerade und so unauffällig wie möglich, bogen ab um zu sehen ob sie dranblieben und freuten uns wie Bolle, wenn sie weiterfuhren.

Es war vielleicht unsere siebte oder achte Fahrt, als ich gerade ans Tanken und an ein frisches Sixpack dachte, obwohl wir an der Auffahrt der Tanke schon vorbei waren. Ich blinkte trotzdem und fuhr stattdessen die Ausfahrt rauf, parkte die Karre neben der Zapfsäule und sah schon beim Aussteigen, dass aus der Gegenrichtung ein Streifenwagen zielgenau auf uns zusteuerte und direkt vor uns hielt. Es war wie bei den Blues-Brothers: „Scheiße“. „Was?“ „Die Bullen“ „Nein“ „Doch“ „Scheiße“. Es gab nicht mal die Hoffnung darauf, dass sie jemand anderes meinen könnten. Irgendwer hatte uns verpfiffen. Vielleicht einer der Taxifahrer, die nachts zahlreich unterwegs waren. Sie verlangten unsere Ausweise und Führerscheine, aber wir hatten natürlich keine. Wir sagten, wir hätten sie zuhause liegenlassen und beteten geübt unsere falschen Daten aus der Kontrolletti-Nummer runter, aber sie funkten den Quatsch, den wir uns ausgedacht hatten durch und es war klar, dass wir verloren hatten. Während wir warteten, fielen mir wieder die Blues-Brothers ein: „Sie haben jetzt dieses Computer-Dingens, wo sie jederzeit sehen können, was Du am Hacken hast.“, sagte ich zu Thilo. Ich weiß nicht mal, wann und wie Thilos Alter von der Nummer erfuhr, aber Thilo ließ sich für lange Zeit nicht mehr bei mir blicken. Dabei hatte er im Gegensatz zu mir nur dieses eine Drama durchzustehen, während ich noch in der gleichen Nacht reichlich Zirkus hatte, weil mich die Polizei mit Blaulicht zuhause ablieferte. Außerdem war mal wieder ein Besuch im Altersheim fällig.

Ich sah meinen ziemlich besten Freund Thilo dann noch genau ein einziges und letztes Mal, als ich in der Silvesternacht kurz vor Zwölf zufällig in die gleiche Kneipe stolperte. Er hatte sich ordentlich betankt und war gerade dabei, aus einer Aldi-Tasche irgendwelche illegalen Böller und Kanonenschläge zu verticken, aber dann war es schon soweit. Alle liefen vor die Tür und lachten und prosteten und riefen und umarmten. Ich kämpfte mich zu ihm durch. Er war gerade dabei, einen von den Kanonenschlägen anzuzünden. „Thilo“ schrie ich ihn durch den Lärm an. „Thilo!“ schrie ich nochmal und dann sah er mich endlich, vergaß aber dafür, den Böller wegzuwerfen. „Wirf das Ding weg!“, schrie ich. „Was?“, schrie er zurück. „Wirf das Ding weg“. „Welches Ding?“ schrie er zurück. Und dann kickte ich ihm mit einer solchen Wucht gegen den Arm, dass ihm der Knaller aus der Hand flog. „KAWUMM“, machte das Ding – und vielleicht verdankt er mir, dass er bis heute noch cool beim Rauchen aussieht. Das könnte ich mir schon vorstellen, wenn ich das Bild gerade rücke.

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