ALLE Bilder sind aus dem obigen Buch von Paul Burgard/ Ludwig Linsmeyer „90 Minuten“ – Mit Ferdi Hartung in die Bundesliga. Teil 2: 1. FC Saarbrücken, im Echolot Verlag erschienen, das Copyright liegt beim Verein zur Förderung des Landesarchivs Saarbrücken, 2014, ISBN: 978-3-945087-01-5, 508 Seiten, www.landesarchiv.saarland.de
In diesem Bild grätscht Jovan Acimovic in seinem vielleicht besten Spiel beim 6:1 gegen Bayern Kalle Rummenigge ab
Ich muss so um die sechs oder sieben gewesen sein, als ich zum ersten Mal zum Fußball ging. Mein Vater nahm mich zu den Blau-Schwarzen mit. Wir betraten das Stadion durch den Einlass an der unteren Camphauser und standen zwischen Block A und C neben dem Olympiator, ziemlich weit vorne. Meiner Erinnerung nach ging es damals gegen Pirmasens, aber ich könnte mich irren. Ich wusste nicht wirklich, worum es ging. Und an das Ergebnis erinnere ich mich auch nicht mehr, nur an das ganze Gegröle, Geschreie, Gemeckere und Gefeiere drum herum. Hinter uns sangen sie inbrünstig und lautstark irgendwas, was ich überhaupt nicht verstand. Eines der Tore verpasste ich, weil ich damit beschäftigt war, den anderen beim Schreien zuzusehen und den Text zu verstehen. Alle waren sehr wütend, selbst Papa rief ab und zu was über die Laufbahn Richtung Spielfeld – also fieberte ich mit und wusste eigentlich gar nicht warum. Ich traute mich auch nicht zu fragen. Aber anscheinend waren alle hier „für uns“, wie mir Papa erklärte. Was machten all die Leute hier? Und warum in alles in der Welt waren sie derart aufgeregt? Wenn ich sie hätte zählen können, wäre ich locker auf zehntausend gekommen. Nie im Leben zuvor hatte ich so viele Menschen auf einmal gesehen. Und noch viel erstaunlicher war, wie ungehemmt sie solche Dinge wie „Wichser“, „Arschloch“ oder „Idiot“ in Richtung des Spielfelds riefen. Dann wieder ein Fangesang aus tausend Kehlen, dessen Text ich nicht verstand. Ich war mächtig beeindruckt!
Einfahrt in den Ludwigsbergkreisel – vor dem Spiel
Wir spielten auf dem Schulhof immer mit einem Tennisball Drei gegen Drei und hatten unseren Spaß dabei. Aber anscheinend hatte mir keiner gesagt, dass das Balltreten und Hinter-dem-Ball-Herlaufen jetzt das war, was Asterix und Obelix in meinen Comics in den römischen Arenen anstellten. Anderntags erzählte ich in der Schule allen davon, die ich traf und begann damit, unsere eigenen Spiele mit dem zu vergleichen, was ich gesehen hatte. Eigentlich war es im Kleinen wie im Großen. Nur die grölenden Massen dazu fehlten und ich stellte mir vor, wie tausend Mann um uns rumstehen und uns anfeuern. Nachts träumte ich sogar davon. Ich musste unbedingt wieder hin!
Im Mai 1974 entfachte sich meine fußballerische Begeisterung vollends mit dem ersten Spiel, das ich live im Fernsehen sah. Das Finale des Europapokals ging nach torlosen 90 Minuten in die Verlängerung und der FC Bayern kassierte kurz vor Schluss das 0:1 gegen Madrid, ehe ausgerechnet der Mann fürs Grobe, Georg Schwarzenbeck, in der Schlussminute zum Ausgleich traf. Die Massen auf den Rängen flippten total aus. Ein Wiederholungsspiel musste her, das die Bayern zwei Tage später mit 4:0 gewannen. Im gleichen Jahr gewann Deutschland die Fußball-Weltmeisterschaft und natürlich verpasste ich kein einziges Spiel. Ich achtete darauf, was die Fans sangen und wie sie sich verhielten und verstand inzwischen so manchen Schlachtruf. Zur Krönung stieg der FCS, der jetzt zu „meinem FCS“ wurde, in die zweite Liga auf. Von nun an sollte es mit meiner Mannschaft nur noch bergauf gehen – auch mit meiner Begeisterung und meinen Anfeuerungsrufen würden wir sie gemeinsam zu Höchstleistungen antreiben, bis keiner mehr gegen uns gewinnen würde.
Stau in der Camphauser Straße vor dem Spiel – damals fuhr man quasi direkt vorm Stadion vor
Im kommenden Schuljahr traf ich dann Jungs, die auch schon mal dort waren. Wir waren sofort Feuer und Flamme und schauten uns ein Heimspiel nach dem anderen an. Wir waren meist zu viert, wenn wir zum Stadion pilgerten und es war fürwahr eine Pilgerei. Aus allen Stadtteilen kamen sie und strömten zum Fußballtempel. Natürlich achtete ich darauf, was blaues zu tragen. Einer von uns hatte sogar Trikot und Fahne vom FCS. Es ist heute vielleicht unvorstellbar, aber in einer Masse von mehreren tausend Menschen wanderten wir Jungs – keiner von uns war älter als acht oder neun – seelenruhig den ganzen kilometerweiten Weg aus unserem Viertel bis ins Stadion und wieder zurück. Erst begleiteten uns nur ein paar Dutzend, wenn man das Haus verließ, aber mit jeden weiteren hundert Metern wurden es immer mehr, bis wir uns schließlich im Bereich des Ludwigsbergkreisels eingekesselt in einer Art blau-schwarzem Meer nur so schnell bewegen konnten, wie alle anderen auch. Im Gänsemarsch ging es zu den Kassen und von da aus auf die jetzt schon heiligen Ränge.
Kurz nach dem Abpfiff – die Massen strömen aus dem Stadion
Die erste Zweitligasaison verlief gut und meist gewannen wir, also wünschte ich mir von Mama einen blau-schwarzen Fanschal zu Weihnachten, den ich auch bekam. Wenig später reihte ich mich sogar stolz mit einer eigenen Fahne in das Meer der Fans ein, wenn es wieder mal zum Heimspiel auf den Ludwigsberg ging. Von nun an klappte es mit dem Gewinnen und ich hatte den starken Verdacht, dass die Spiele im gleichen Grad besser wurden, je mehr meine Begeisterung wuchs. Ich begann damit, während der regelmäßigen Pilgerwanderungen zum Stadion, die Gespräche der anderen vor dem Spiel mit den erzielten Ergebnissen nach den Spielen zu vergleichen und erzielte eine erstaunlich hohe Trefferquote bei meinen Vorhersagen für das jeweils anstehende Spiel. Ich erinnere mich daran, dass meine Jungs auf meine Vorhersagen am meisten gaben und immer gespannt waren, was ich tippte. Wenn ich beispielsweise entschied, „die hauen wir heute 4:1 weg“, dann waren auch die anderen sehr entspannt.
Fan-Artikel oberhalb der Haupttribüne
Die zweite Zweitligasaison war dann der absolute Knaller. Inzwischen kamen zu jedem Spiel mindestens zwanzigtausend ins Stadion und in Topspielen um die dreißigtausend. Im Spiel gegen Nürnberg saßen die Menschen auf Bäumen und oben in den alten Flutlichtmasten, was in den verrückten Siebzigern irgendwie durchging. So was hätte ich mich nicht getraut, aber es war spannend zu beobachten, wie sich das Stadion von Spiel zu Spiel weiter füllte, als es Richtung erste Bundesliga ging. Wir kriegten raus, wie wir zum Stehplatztarif auf die Haupttribüne kamen. Dazu kauften wir uns Schülertickets im Stehplatzblock A und sobald das Spiel lief, waren auch die Ordner so abgelenkt vom Spielgeschehen, dass wir uns zwischen den blauen Rohren, die die Haupttribüne vom Block trennte, hindurch zwängten und dann von der Tribüne aus die Spiele verfolgten.
Die Haupttribüne mit den typischen Absperrungen, zwischen die wir uns klemmten. Hier eine Szene beim 2:1 Heimspielerfolg 77/78 gegen die Bayern. Sitzend: Cramer, Schwan, Müller-Wohlfarth
Als der FCS dann Mitte 1976 aufgestiegen war, brachen alle Dämme. Die Stadt war im Ausnahmezustand. Die Spieler zogen in Autokorsos durch die Innenstadt zum Rathaus und ich erinnere mich noch ganz genau daran, als ich vor dem Balkon des Saarbrücker Rathauses stand und Oskar vom Balkon aus sprach, als sei soeben die Stadt zur Hauptstadt der Bundesrepublik ausgerufen worden. „Bundesligastadt Saarbrücken“ stand in großen Lettern auf der Fassade und es gab sogar Freibier auf dem Rathausvorplatz, woran ich freilich noch kein Interesse hatte. Die anschließende Bundesligasaison hätte spannender nicht sein können. Natürlich kannte ich inzwischen alle Namen der Spieler, die Rückennummern, ihr Spielweisen auf dem Fußballfeld, woher sie zum FCS kamen, ihre Tore, ihr Alter und die Häufigkeit ihrer Einsätze – und das auswendig! Ich war jetzt immer früher im Stadion, studierte die Stadionzeitung aufs Genaueste, schaute mir das ganze Vorprogramm mit an und wechselte in den D-Block, was evolutionär gesehen die folgerichtige Entscheidung war. Hier standen die „echten“ Fans und sangen von der ersten bis zur letzten Minute.
Aufstiegsfeier des FCS 1976 vor dem Saarbrücker Rathaus. Freibier!
Es tat meiner Euphorie keinen Abbruch, dass mehr Spiele verloren gingen, als gewonnen wurden. Allerdings war der Blick auf die Tabelle längst nicht mehr so schön wie im Vorjahr. Es sah immer düsterer aus. Ca. acht Spieltage vor Saisonende gab niemand mehr außerhalb der Stadt was drauf, dass der Verein in der Liga bleiben würde. Doch manchmal geschehen Dinge im Fußball, die im Nachhinein als Wunder verklärt werden – und doch nur konsequent zeigen, wozu eine intakte Mannschaft in der Lage ist. Die Ergebnisse waren bis dahin einfach nicht das, was der Klub damals spielen konnte. Mindestens die Hälfte der Unentschieden und knappe Niederlagen liefen nämlich viel besser, als es das Ergebnis ausdrückte. Und dann kam, genau zum richtigen Zeitpunkt, endlich das Glück zurück. Der FCS begann, ein Spiel nach dem anderen zu gewinnen.
Roland Stegmayr bei seinem Tor im zweiten Heimspiel gegen die Bayern: 1:0 durch Fallrückzieher!! Im legendären 6:1-Spiel erzielte er vier Treffer.
Darunter das unvergessliche 6:1 gegen den dreifachen Gewinner des Europapokals, den FC Bayern München im April 1977. Neben Beckenbauer kickte immer noch Schwarzenbeck in der Bayern-Elf. Ich stand damals oberhalb der Gegengeraden auf dem Hügel, der später mal die Gegentribüne werden sollte, weil es in den Massen einfach keinen Platz mehr gab. Obwohl das Stadion immer noch erst 30.000 fasste, waren an diesem Tag mindestens 5.000, vielleicht sogar 10.000 mehr drin, die sich irgendwie Zugang verschafften. Selbst auf dem Dach der nahe gelegenen Saarlandhalle sah ich die Fans euphorisch feiern. Einfach unvergesslich. Saarbrücken schaffte tatsächlich noch den Klassenerhalt und schloss die Saison als Tabellen-Vierzehnter ab.
…dann brachen alle Dämme. Fans aus dem FCS-Block, darunter ICH(!!) links unten sitzend über den Zaun krabbelnd, stürmen den Rasen und feiern den Klassenerhalt
In der darauffolgenden Saison stand Saarbrücken nach 13 Spielen im Mittelfed und mit ausgeglichener Bilanz da. Niemand sprach noch von Abstiegskampf – doch dann begann eine Minus-Serie, welche die Siegesserie der Vorsaison bei weitem übertraf. Ein schlechtes Spiel nach dem anderen, bis schließlich keine Rettung mehr in Sicht war und kein zweites blau-schwarzes Wunder war in Sicht. Es war der Spätsommer 1978, als der FCS sich zum zweiten Mal aus der Bundesliga verabschiedete. Ich war inzwischen dreizehn und das Taschengeld reichte neben der Bravo auch schon für Kinokarten. In der Stadt öffnete eine Disco, in der sich fast alle Schüler mal trafen. Für den September kündigte sich ein Open-Air Konzert im Ludwigspark an. Das Line-Up bestand aus den Scorpions, John McLaughlin, Alvin Lee, Frank Zappa, Joan Baez und Genesis. An der gegenüberliegenden Saarlandhalle waren bereits Plakate für das Queen-Konzert im Februar 1979 geklebt. Mein bester Freund fing an zu rauchen. Wir kriegten neue Nachbarn. Sie hatten eine süße Tochter in meinem Alter…
Der FC Bayern verlässt geschlagen den Rasen, FCS-Verteidiger Semlitsch schaut allerdings genauso übel drein.
Gerd Müller, der kurz vor der Pause das einzige Tor für die Bayern erzielte, scheitert hier an FCS-Torwart Dieter Ferner
Fans feiern den Klassenerhalt 1977 auf dem „heiligen Rasen“
Saarbrücken feiert den Aufstieg des FCS mit Freibier auf dem Rathausplatz 1976
FCS-Kapitän Egon Schmitt, der „Charly Körbel“ des Vereins, erhält als Kapitän stellvertretend die Trophäe zum Aufstieg in die Bundesliga 1976, eine goldene Kugel. Schmidt, der von allen Fans stets nur bei seinem Vornamen „Egon“ gerufen oder benannt wurde, war DIE Konstante im Team, sowohl spielerisch als auch sportlich – und mein persönliches Vorbild. Er spielte als Einziger alle Spiele der zweiten und ersten Liga zwischen 1974 und 1978 in der Startelf durch.
Die Mannschaft in Mercedes- und Renault- Cabrios beim Triumphzug durch die Bahnhofstraße. Hier Ferner und Semlitsch im weißen Mercedes, auf dem Beifahrersitz Ernst Traser.
Die Mannschaft auf der Ehrenrunde beim Aufstieg in die Bundesliga. Dritter von rechts Felix Magath.
Von links nach rechts: Semlitsch, Zech, Denz, Heinz Traser, Fazlic, Spasovski, Ernst Traser
Rathausvorplatz
Der Ludwigspark war oftmals so überfüllt, dass die Zuschauer auf die Bäume auswichen, mehrmals sogar auf die alten Flutlichtmasten. Komischerweise waren die Eingangstore nach den Kontrollen und dem Spielanpfiff oftmals unbewacht geöffnet.
Pausenunterhaltung während eines Bundesligaspiels vor dem D-Block
Spielszene aus dem Spiel vom 4.2.78: FCS-Werder Bremen (1:1) – im Hintergrund die Saarlandhalle.
Eingangsbereich in der unteren Camphauser Straße. Busse standen nach Spielschluss zur Heimfahrt bereit.
Wunderbar! Ich stieg erst beim Bayern-Spiel ein, seitdem lässt mich dieser wunderbare Verein nicht mehr los, auch jetzt im Exil (BaWü) nicht. Einmal blau-schwarz immer blau-schwarz!!!
Danke, Alex!
Jetzt kenne ich die Bayernstory.