Wiener Schmäh

 

 

Wien. Wir befinden uns im Jahr 2004 und das ist – liebe Freunde der Mathematik – nun mal dreizehn Jahre her zu dem Zeitpunkt, an dem man es hier zum ersten Mal nachlesen kann. In einer Zeit, in der es erstmals Farbdisplays auf Handys gegeben hat und in der Headsets oder gar Smartphones etwas ganz neues waren. Die Wiener Stadtbahn liegt zu einem Großteil in einer Art Fahrgraben, die es ihr seit ihrer Eröffnung 1925 erlauben sollte, unabhängig von irgendwelchem übrigen Stadtverkehr, schnell und zügig von A nach B zu kommen. Es sieht ein bisschen so aus, wie eine nach oben offene U-Bahn, nur links und rechts durch hohe Mauern begrenzt und man fühlt sich darin augenblicklich wie in einer seltsamen Zeitmaschine, in der man zwar um Jahrzehnte zurückversetzt wird, aber im Gefühl dessen eine Vorstellung davon hat, wie modern diese Art des Transports damals gewirkt haben muss. Die Stadtbahn ist heute Teil des S- und U-Bahn-Netzes und man lernt sie ohnehin kennen, wenn man sich als Tourist durch die Stadt bewegt, wie ich das 2004 tat, nämlich sich kreuz und quer zwischen möndänen Stadtbauten und typischen Wiener Cafélandschaften, zwischen Prater und Stephansdom durch die Stadt treiben lässt.

In eben diese Stadtbahn stieg ich, kurz nachdem mir an der Hofburg zwei japanische Schulmädchen entgegen kamen und mich für einen waschechten Wiener hielten. Unter Verwendung diverser hilfloser Gesten, stammelten sie „Sissi. Sissi?“ raus. Sie waren auf dem Weg durch die Stadt und hatten sich bis zur Hofburg nach dem Sissi-Museum (das gibt es wirklich) durchgefragt und jetzt, wo sie da waren, konnten sie die Schrift nicht lesen, die ihnen direkt den Weg zum Prinzessinnentraum wies. Also konnte ich mich nützlich machen und ihnen wird es egal gewesen sein. Sie kommen aus fernen Welten in unser gutes, altes Europa. Nach dreizehn weiteren Jahren erzählen sie ihren Töchtern, wie toll das Sissi-Museum war, dort in Europa. In diese Reihe würde vermutlich auch das Schloss Neuschwanstein passen und schon weiß der Asiate von Welt, wie das gute, alte Europa aussieht.

Ich nahm gegenüber einer etwa fünfundzwanzigjährigen, sehr attraktiven Frau Platz. Sie hatte wunderschöne, dunkelbraune Locken, die ihr hübsches Gesicht umspielten und als ich sie ansah, war ich augenblicklich gefesselt vom Blick ihrer Augen, die mich fixierten. Wir sahen uns so intensiv und lang anhaltend an, dass ich mich noch heute an den Blick erinnern kann. Ich war entzückt von diesem hübschen Antlitz und ein wenig peinlich berührt davon, dass sie mich so mit offensichtlich gleicher Begeisterung anstarrte. So nickte ich ihr mit einer kleinen, fast unmerklichen Bewegung meiner Augen zu, indem ich sie kurz schloss und sie dann wieder lächelnd ansah. Weitere Sekunden vergingen, bis sie den Blick von mir ließ. Ein kleines bisschen mischte sich ein Gefühl der Unbehaglichkeit mit ein. Mir fehlte es in zwischenmenschlichen Begegnungen nie an Selbstbewusstsein, aber es war doch eine außergewöhnliche Begegnung, in der sich eine etwa fünfzehn Jahre jüngere Frau, die zudem das Zeug dazu hatte, in jedem Model-Contest als Siegerin von der Bühne zu schreiten, sich mit einem einzigen Blick in mir verfing.

Ich rückte mich selbst im Bahnsitz ein wenig zurecht, um so unberührt wie möglich zu wirken, aber ihr doch die Möglichkeit zu geben, den Flirt fortzusetzen. Also sah ich sie wieder an. Da! Auch sie schaute her. Direkt in die Augen und schien etwas dahinter entdecken zu wollen. So wie jemand nachdenkt, was man vom anderen halten soll. Dann schloss auch sie die Augen mehrmals kurz, wissend, dass sie nun etwas verstanden habe. Mich hielt es vor Spannung kaum noch auf dem Sessel und meine Gedanken fuhren Achterbahn. Alles, was mir jetzt durch den Kopf schoss, hätte dem Zauber ein Ende bereiten können. Ich war nicht geübt darin, irgendwas Kluges von mir zu geben, was diesen ersten Eindruck hätte vertiefen können. Bilder gemeinsamer Einspänner und Sachertorten zogen an mir vorbei, ich war einfach zu nichts anderem mehr fähig, nachdem ich den ganzen Tag Wien erlief. Gerade als ich so was wie „Wohin des Wegs?“ murmeln wollte, fixierte sie mich und eröffnete das Gespräch selbst. Fasziniert betrachtete ich, wie sich ihre schönen Lippen bewegten.

Du musst Di ned aufmotzn“, sagte sie. Und „Die wüi Di nur poberln“, sagte sie in einer zarten, schönen Stimme zu mir. In mir lief eine ganze Reihe von hier nicht näher beschreibbaren Vorstellungen ab, was das gerade zu bedeuten hatte. Ich blickte verlegen aus dem Fenster. Dann wieder zu ihr zurück. „Wenn’ds ned wüist, dös se di papierlt, musst da’s ihr einidruckn“ fuhr sie fort. Ich sah mich im Abteil um. War noch jemand da, den sie eigentlich ansprach, stattdessen aber zu mir sah? Niemand war zu sehen. Ich blickte auf die Schönheit gegenüber zurück. Was sie sagte, konnte ich ohnehin nicht schnell genug verarbeiten. Andererseits schien sie es fast zu sich selbst zu sagen. Ihre Sprache schien nicht mit ihrem Blick zu mir übereinzustimmen. Egal was sie zu mir sagt, dachte ich mir. Von mir aus kann sie mir alles erzählen, was sie will. Ich lauschte weiter.

Wenn d‘ an Hahn host, is dös an schlampertes Verhältnis. Loss die Schnolln anfach foahn. Da hast den aufdrahten und stöhst doa wia an Würsterl“, setzte sie fort und schlagartig wurde mir bewusst, was hier gerade vor sich ging. Das arme Ding hatte den Verstand verloren! Sie war eine der vielen, verwirrten Menschen, die besonders in Bahnen und Bussen auffallen, wenn sie vor sich her reden und anderen ihre Welten mitteilen, in denen sie leben. Ach, was tat sie mir leid. Solch ein hübsches und junges Wesen. Den Verstand verloren. Und ich brauchte nur so lange, um es zu erkennen, weil mich ihre Schönheit fesselte. Was bin ich für ein Narr, dachte ich. Eine feine Lektion, die mir gerade erteilt wurde. Ich schaute sie nun nicht mehr direkt an, sondern versuchte meinen Blick an den Abteiltüren und -fenstern zu orientieren, die Werbung und den Fahrplan zu betrachten und entspannte mich. Die Situation war jetzt geklärt. Ich brauchte nun keine Hoffnungen mehr in die Liebe auf den ersten Blick zu investieren und dachte über den weiteren Verlauf des Nachmittags nach, während sie fleißig weiter philosophierte.

I wüi se ned ausrichten, oaba mia könen auch an anders Mal drüba schnattern. I bin jötzt eh da.“ sagte sie. Ich sah zur Decke. „Baba“, sagte sie. „Baba“ sagte ich. Darauf reagierte sie. Allerdings nicht so, wie ich es erwartete. Sie strich ihre hübschen Locken mit der Hand zu Seite, gab den Blick auf ihr zweifelsfrei gleichfalls hübsches Ohr frei und zog einen Stöpsel aus dem Ohr, den ich nur deswegen nicht vorher entdeckte, weil ihr Haar darüber fiel. Dann erst entdeckte ich die zarte Schnur, die von links nach rechts entlang ihres Dekolletés ruhte und die sie jetzt gemeinsam mit dem Stöpsel aufwickelte, während sie aufstand und mir einen Blick zwischen „Arschloch“ und „Besserwisser“ zuwarf. Ich hatte mich gerade in ein vertrauliches Gespräch mit ihrem besten Freund eingemischt, ohne es zu wissen. Ja, mehr noch. Ich hatte sie kurz zuvor in Gedanken als rettungslos verloren abgestempelt, während sie nicht anderes tat, als mit einem der ersten Headsets, die ich je in meinem Leben sah, zu telefonieren. Und als sie zu Anfang unserer Begegnung darüber nachdachte, wie sie das Gespräch mit ihrem Freund fortsetzen sollte, starrte sie bloß gedankenverloren in die Gegend – und ich tat nichts anderes, als mich einfach zufällig in die Blickrichtung zu setzen. Na toll. Ich schnaufte ein paar Mal durch, weil ich hoffte, es damit für den ersten Augenblick zu verarbeiten. Dann stand ich auf und betrachtete mir den Stationsfahrplan, den ich zuvor für einige Zeit vom Sitz aus nur schemenhaft erkannte, genauer. Es waren noch drei, elend lange Stationen.

 

 

 

 

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