Wenn ich heute an meine Ausbildung in den frühen 80ern zurückdenke, fallen mir reihenweise Sachen ein, die es einfach nicht mehr gibt. Schon allein diese Arbeitswelt an sich, die so herrlich ineffizient war, dass es reihenweise unnütze Gestalten gab. Fast alles musste von Hand geschrieben werden, weil es einfach noch keine Computer gab. Bestenfalls nutzte man eine Schreibmaschine. Man legte Kohlepapier zur Durchschrift ein und nahm TippEx, wenn man sich vertippte. Es gab klassische Telefone mit Wählscheiben, deren Hörer massiv und schwer waren. Kalender wurden von Hand geführt. Die Anwesenheit wurde mit Lochkarten überwacht, die man morgens in einen Apparat schob, der dabei laut und deutlich Ratsch und Pling machte. Die Pausen waren morgens schon eine halbe Stunde lang und mittags eine volle zusätzlich.
Als Babyboomer schrieb ich eine Bewerbung nach der anderen, um überhaupt einen Ausbildungsplatz zu kriegen. Ich gehörte zu den geburtenstarken Jahrgängen und so, wie ich mit fünfunddreißig anderen den Klassenraum in der ersten Klasse teilen musste, mit Horden von Kindern zur Konfirmation geschickt wurde und die Bundeswehr mehr Menschenmaterial hatte, als sie unterbringen konnte, schrieb ich fünfundsiebzig Bewerbungen, bis ich einen Ausbildungsplatz hatte. Als ich beim Arbeitsamt vorsprach und denen sagte, ich wisse gar nicht was ich werden wolle, gaben sie mir Papier und Bleistift in die Hand und nach einem unvorstellbar dämlichen Test sagten sie mir, ich solle jetzt Kaufmann werden. Kaufmann. Ich nahm stark an, dass ich was kaufen sollte. Oder wenigstens was verkaufen. Aber dann hätte man es Verkaufsmann genannt, oder? Hier gab es jedenfalls nichts zu kaufen. Sie verwalteten die Landesimmobilien. Das hörte sich mächtig nach was an. Aber das war es nicht. Und doch gaben sie sich große Mühe, wie ich heute dankbar weiß, mir von allem was beizubringen.
Im Rechnungswesen arbeitete die attraktivste Frau der Firma. Sie war blond und drall, aber mit ihren 32 Jahren unerreichbar für mich. Eines Tages prahlte sie damit, dass sie noch nie auch nur einen Tag krank war, was sie für mich schlagartig unattraktiv erscheinen ließ. Und es gab zwei fleißige, ältere Damen, die unglaublich flott die Belege sortierten und das Ergebnis handschriftlich in die Bücher trugen. Sie wussten, dass Blondie in Kürze hier die Arbeit für drei machen würde. Aber sie wussten auch, dass sie es bis zur Rente schaffen und so hielten wir manchen Plausch über Gott und die Welt, wenn Blondie nicht im Raum war. Ich hatte da sowieso nicht viel zu tun, außer den Damen beim Sortieren zuzusehen oder Tabellen zu erstellen.
In der Wohnungswirtschaft gab es einen komischen Chef, der den ganzen Tag über Pfeife rauchte. Er hatte einen Klumpfuß, den er immer unterm Drehsessel verbog und einklemmte, wodurch er schräg wie Quasimodo saß. Die Pfeife im Mundwinkel geklemmt, fixierte er mich mit seinen winzigen Schweinsäuglein durch seine Brille. Wenn er was erzählen wollte, nahm er einen tiefen Zug, legte eine Kunstpause ein, ließ den Blick über den Parkplatz schweifen und nach ziemlich genau zehn Sekunden sagte er wieder was, was er stets für sehr klug hielt. Er unterzeichnete alle Briefe, die nach draußen gingen. Jeder einzelne Mieter hatte einen eigenen Hängeordner im Schrank und darin wiederum kleinere Register über alles Mögliche. Es war wirklich alles, von Anfang bis Ende, handgeschriebenes, handwerklich solides Zeugs. Die Pfeife rief mich ab und an zu sich und vertrieb sich die Zeit damit, mich mit meinem Unwissen zu quälen. Manchmal driftete er zu privatem Krempel ab, aber ich bin mir nicht mehr sicher, was mir weniger gefiel. Die Geschichten über seine Nachbarn oder die Vorträge über das Mietwesen.
Für ein Gebäude, in dem wir mit etwa zwanzig bis dreißig Angestellten nur zwei Etagen belegten, hatten wir einen eigenen Hausmeister! Seine Aufgaben bestanden darin, die Aufzugsfirma anzurufen, beim Kopierer den Resetknopf zu drücken, die Post zu verteilen und ansonsten rumzustehen und dummes Zeugs zu reden. Wir hatten eine eigene Telefonistin. Sie hatte ein großes, schweres Telefonpult mit einer Wählscheibe, zwei Hörern und etwa fünfzig Knöpfen vor sich. Wenn ein Anruf kam, sagte sie „Moment bitte“, drückte einen Knopf und legte den Hörer wieder auf. Ansonsten führte sie irgendwelche Listen, wer wann wohin ging. Dann erinnere ich mich an einen Buchhalter namens Müller, der aussah, wie der lebendige Tod. Und er sprach auch so. Er kochte sich morgens und mittags immer eine Kanne Kaffee und ließ ihn dann kalt werden. „Kalter Kaffee“, sagte er, „ist das Beste, was man gegen den Durst trinken kann“. Er war die perfekte Karikatur eines Buchhalters, denn er sagte sonst nie was und beugte sich immer tief über seine Zahlenbücher, wo er irgendwas eintrug oder prüfte.
Es gab da noch den Wahnsinnigen aus der Liegenschaftsabteilung. Er liebte es, seine gutmütigen Kollegen die ganze Zeit über anzubrüllen und zu schikanieren. Er konnte auch gar keinen normalen Satz sagen, den man verstand. Es verging kein Tag, an dem er uns nicht ständig unter die Nase rieb, dass man ihm nichts anhaben kann. „Ich hab' Paragraph 51“ pflegte er stets ungefragt auszurufen. Und tatsächlich zeigte er mir seinen Ausweis, in dem stand, ihm sei wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit Schutz nach §51, Absatz Zwei des Strafgesetzbuches zuzubilligen! Und so benahm er sich auch ständig. Wäre er einfach nur zu Hause geblieben und nie mehr erschienen – der ganze Laden hätte kollektiv befreit aufgeatmet. Eines Tages entdeckte er in der Schublade meines Schreibtischs einen Spruch, den ich aus Langeweile auf ein Stück Papier gekritzelt hatte. Darauf stand: „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht“. Von nun an hörte man ihn von morgens bis abends damit. Und zwar auf beiden Etagen. Mittags musste ich ihm zur Pause immer eine BILD-Zeitung kaufen. Es war mir zuwider, dieses Scheißblatt auch nur anzufassen. Also betrat ich den Zeitungsladen und sagte: „Eine Frankfurter Rundschau für mich und eine BILD für meinen Chef“, wickelte die BILD in die Rundschau ein und versuchte, auf dem Rückweg nicht weiter aufzufallen.
Eine Reihe von Leuten waren keiner Abteilung zugeordnet. Darunter der Prokurist, der Wirtschaftsprüfer, der Verkäufer, ein Statiker, ein Vermessungstechniker und schließlich der Geschäftsführer, der zwei Vorzimmerdamen hatte, die ständig mit ihren Schreibmaschinen oder dem Kaffeekochen beschäftigt waren. Jeden Freitagnachmittag quälte er uns Auszubildende damit, Vorträge über hanseatisches Kaufmannswesen zu halten, während alle anderen ins Wochenende verschwanden. Er hatte was drauf, aber für uns Azubis war es eine Qual, sich bei schönstem Wetter anzuhören, wie die Hansestädte entstanden. Als einzige Entschädigung gab es für jeden eine Tasse Kaffee, wobei er die Angewohnheit hatte, seinen auf lauwarm abkühlen zu lassen. Als ich meine Tasse unten hatte, musste ich die nächste Stunde ohne irgendwas auskommen, was mich ablenkte. So baute ich den Kugelschreiber ein ums andere Mal komplett auseinander und wieder zusammen, bis es endlich vorbei war. Eines Freitagnachmittags, ich war so beim dritten Mal, schraubte ich ihn falsch rum zusammen und mir flutschte die Feder in einem hohen Bogen nach oben zur Decke. Ich kann mich noch so genau dran erinnern, weil ich die rotierenden Bewegungen der Spirale noch heute vor mir sehe, wie sie, wie in Zeitlupe, sich zehn, fünfzehn Mal dreht, während sie in hohem Bogen über den ganzen Konferenztisch durch den Raum trudelt, um exakt in seiner Kaffeetasse zu landen! Volltreffer! Weil wir aus dem Gackern nicht mehr rauskamen, musste er abbrechen und hinterher gratulierten mir alle anderen für den gelungenen Stunt.
Wenn ich heute dran zurück denke, waren die drei Jahre wie vom anderen Stern. Es war so was von seltsam, wie die Arbeitswelten damals funktionierten und doch haben sie es trotz aller Umständlichkeit, aller Komik und aller sturen Systematik geschafft, dass ich mich an jede einzelne Station meiner Ausbildung erinnern kann. Besser, als sie es eigentlich vorhatten. Sogar an den Inhalt der Vorträge am Freitagnachmittag. Und ich hab' den Verdacht, das war ganz gut so.
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