Was mir auf der Seele liegt

Der Einsatz auf der orthopädischen Station war mir ein Leichtes. Für den Anfang meiner Zivildienstzeit hatten sie mir eine Station zugeteilt, auf der es nicht sehr viel zu tun gab. Es ging um irgendwelche Brüche oder Hexenschüsse, meistens waren die Patienten nach drei Tagen wieder weg, nichts Gravierendes. Wir hatten Frauen und Männer auf der Station liegen. Zur Grundausstattung gehörte ein Fieberthermometer, ein Kugelschreiber, ein Notizbrett und ein Blutdruckmessgerät. Ich betrat das Krankenzimmer, ging zum Bett hin und fragte „Heute schon gekackt?“ und trug das Ergebnis auf der Tafel ein. Dann reichte ich das Fieberthermometer und sie steckten es sich, wohin sie wollten. Als Nächstes legte ich die Manschette um den Oberarm und gab reichlich Druck drauf. Wenn sie mir unsympathisch waren, ging ich auf 250, andernfalls reichten 180 zum Messen. Ich stopfte mir das Stethoskop in die Ohren, ließ die Luft raus und horchte aufmerksam nach dem Puls, während ich gleichzeitig zählte, wie oft die Pumpe des Patienten in 15 Sekunden schlug, multiplizierte mit Vier und trug anschließend die Werte aus Puls, Blutdruck und Körperwärme ein. Insgesamt waren es dort rund dreißig Betten, also trug ich sechzig mal vier Werte zu Beginn und zum Schluss der Schicht in die Patientenkurven ein und obwohl ich drei Monate auf der Station war, sagte kein Arzt auch nur einziges Mal irgendwas zu den Eintragungen, selbst wenn ich eintrug „seit Tagen nicht gekackt, Puls 110, Fieber 39,0 und Blutdruck 210 zu 180“.

Meine übrigen Aufgaben bestanden darin, die Betten neu zu beziehen, bevor einer frisch reinhüpfte, die Pfannen der bettlägrigen Patienten zu leeren, zu waschen, wieder zurückzubringen und die Pillen zu verteilen, die irgendjemand ganz gewissenhaft abgezählt hatte und sie in die Schachteln mit den Namen einsortiert hatte. Bestenfalls jemandem beim morgendlichen Waschen helfen. Weil einfach sonst nichts passierte, spiele ich Pillenroulette, rauchte ab und zu mit Manni einen Joint im Hof und unterzog die Pfannenwaschmaschine so manchem Stresstest. Die Maschine hatte 'ne Macke. Sie wusch nur die flüssige Kacke beim ersten Mal. Aber wenn man so 'n richtiges Pfund zur Leerung brachte, musste man die Schüssel drei Mal nacheinander in die Halterung stecken, die Klappe schließen und das Spülprogramm starten und selbst dann gab es noch Striefen. Nichts für schwache Nerven. Aber jedes Mal, wenn ich vom Hof zurückkam, war ich sowas von relaxt, dass mich nichts mehr umhaute. Nach drei Monaten meinten sie, ich solle doch mal zur intensiven Orthopädie wechseln, jetzt wo ich das Handwerk gewissenhaft beherrsche.

Das war dann schon eine ganz andere Nummer. Auf der intensiven Orthopädie lagen die schweren Fälle. Patienten, die so richtig was an der Hüfte hatten, 'ne Prothese bekamen oder deren Unfall sie von jetzt an in den Rollstuhl zwang. Wirbelsäulen-OPs und ähnliche Katastrophen. Es war nun nicht mehr so entspannt, selbst wenn Manni mir weiterhin anbot, sein Dope mit mir zu teilen. Ich mochte die Pause sehr gerne, aber weniger wegen des Dopes, sondern mehr, weil es einen von der Belastung abschalten ließ. Der Stationsvorsteher auf der Intensiven war das, was man gemeinhin als Arschloch bezeichnet. Er riss fürchterlich schlechte und flache Männerwitze, die darauf hindeuteten, dass er selbst seit Jahren untervögelt war. Seine einzige Leidenschaft schien das Angeln zu sein, denn er füllte den Stationskühlschrank vorwiegend mit Plastikschüsseln, in denen sich Hunderte von winzigen Würmern tummelten und jedes Mal, wenn ich morgens den Belag für meine Stulle im Kühler rauskramte, musste ich diese beschissene Würmerbrut beiseite räumen, was mir schlagartig den Appetit vertrieb. Verdammtes Gewürm. „Hahaha…“, rief er dann so laut aus, dass man es über die ganze Station verteilt hören konnte, „hoffentlich ist sein Wurm größer, hahahaha…“ und ähnlichen Schwachsinn. Oder wenn sie sich während des Frühstücks darüber unterhielten, was in der BILD-Zeitung steht und jede dieser miesen Schlagzeilen besprachen, als ob es keine anderen Themen gäbe, als die Titten von Madonna oder das Katastrophenwetter von morgen, weil sie sonst zu keiner Unterhaltung fähig waren. Ich schaltete dann immer auf Autopilot und wenn der Oberarsch merkte, dass ich ihren wichtigen Themen nicht zuhörte, riss er einen seiner Flachwitze und alle anderen fühlten sich verpflichtet, artig dazu zu lächeln.

Jeden Morgen machte ich das mit und wunderte mich, wieso sich die anderen das freiwillig antaten. Aber abgesehen davon und von der Belastung der täglichen Arbeit lernte man 'ne Menge. Und ich hatte Günter. Günter war so um die 65 und unser Dauerpatient. Er hatte irgendwas unaussprechlich Fürchterliches und obwohl ich nicht genau wusste was, erinnere ich mich, dass er wegen einer schlimmen Wirbelsäulengeschichte bei uns lag und er wegen der anderen Sache ständig an irgendwelche Schläuche musste. Er lag in einem Spezialbett und bekam jede Menge Drogen gegen die Schmerzen und ich schämte mich ein bisschen dafür, dass Manni und ich unser Dope alleine wegzogen, während es Günter hier nun wirklich nötig hatte. So gegen Zehn war der tägliche Stress erstmal vorbei und in jeder einzelnen Frühschicht nutzte ich die Zeit, um mit Günter zu reden.

Er redete nie über seine Schmerzen, nie über seine Krankheit und nie über seine Sorgen, obwohl ich aus jeder Unterhaltung mit ihm heraushörte, dass er bereits eine Menge schwerer Brocken beiseite gerollt hatte, bis er vor diesem riesigen, schier unbezwingbaren Felsen stand. Ich liebte diesen täglichen Schwatz. Er begann immer mit ein paar sarkastischen Boshaftigkeiten gegen den Stationsarsch, hangelte sich dann an ein paar Nebensächlichkeiten zum Tage entlang, bevor er über eine Bemerkung zu was Politischem oder zu einer Erwähnung aus meinem Alltag zielgerichtet in eine Art Lebensberatung mündete, denn wir hatten immer nur so um die zwanzig Minuten, aber ich schwöre bei der heiligen Bettpfanne, dass ich jeden einzelnen Tag was daraus mitnahm, was mich beschäftigte und woraus ich auch Kraft schöpfte. Und ich weiß, dass auch Günter diesen Part des Tages liebte. Es war das Highlight seines beschissenen Alltags voller Schmerzen, Bewegungsunfähigkeit und totaler Isolation, denn ich sah keinen einzigen Menschen, der ihn je besucht hätte. Er machte sich vielleicht schon morgens nach dem Frühstück Gedanken darüber, was er mir noch sagen wollte. Es muss ihn geradezu vor Neugier zerrissen haben, wie diesen Tag der Plausch verlaufen würde, womit er mir beistehen könnte und vielleicht konnte ich für ihn mit meiner Fähigkeit, ihm zuzuhören, viel mehr tun, als das all die Tapes taten, die er schlucken musste. Oft hatte ich die Schnauze vom Oberaffen voll und die ausbeuterische Arbeit nervte mich, aber ich hätte niemals das Blaumachen unserer täglichen Unterhaltung vorgezogen, weil ich wusste, dass es ihm wichtig war und weil ich wusste, dass er darauf wartete.

Dann kam der Tag, der mich bis heute immer wieder aufs Neue zutiefst beschäftigt und für dessen Verlauf ich mich bis heute immer wieder anklage. Ich hatte gerade die erste Runde des Bettenmachens hinter mir und bei all den Schwerverletzten war das eine Arbeit, die zwei Stunden in Anspruch nahm, obwohl es nicht mehr als zehn Krankenzimmer oder fünfzehn, sechzehn Patienten waren. Der Brüllaffe blökte rum, weil die Medikamente noch nicht verteilt waren und ich war nur kurz bei Günter, weil ich überall die Pillenschachteln einsammelte, um sie ins Stationszimmer zu tragen und Günter sagte „Warte“ und ich sagte „Du hörst ihn doch rumbrüllen“ und Günter sagte „Bleib noch hier“ und ich sagte „Ich komm um Zehn rüber“ und Günter sagte „Nur fünf Minuten“ und ich sagte „Du weißt doch, wie der ist“ und nahm die Schachtel und verschwand aus dem Zimmer. Während ich die Schachtel in der Hand hatte und ins nächste Zimmer eintrat, wurde mir bewusst, dass er noch nie zuvor gesagt hatte „nur fünf Minuten“. Er wusste doch, dass ich nachher für ihn Zeit habe. Ich sammelte die Handtücher auf, die im Bad auf dem Boden lagen und hängte sie wieder auf den Haken. Und als ich die nächste Schachtel über die erste stapelte und einer der Patienten sagte, er müsse kacken, dachte ich, dass mich Günter noch nie gebeten hatte, kurz zu warten und mich versuchte, in meiner Arbeit aufzuhalten. Ich ließ die Schachteln liegen, nahm die Bettpfanne und schob sie sorgfältig unter, redete aber mit niemandem, weil meine Gedanken um Günter kreiselten. Und als ich die fünfte über die sechste Schachtel stapelte und ins nächste Zimmer ging, wo gerade jemand im Rollstuhl versuchte, nach oben an den Fenstergriff zu kommen, erinnerte ich mich daran, dass er mich gerade imperativ aufgefordert hatte, bei ihm zu bleiben und als ich endlich im Stationszimmer mit allen Schachteln ankam und sie dort ablegte, damit sie neu befüllt werden, war ich bereits wie unzurechnungsfähig vor Angst und es ergriff mich eine Panik, die ich nicht definieren konnte und mir wurde schlagartig klar, dass der Mann, der mich Tag für Tag mit seinen Geschichten inspirierte und aufbaute, mich erstmals explizit um Hilfe gebeten hatte. Während ich es für wichtiger hielt, meinen Job zu erledigen.

Ich drehte um und lief zurück, riss die Tür auf und da lag er. Reglos. Die Augen halb geöffnet zur Decke blickend und das Gesicht zu dem Schmerz verzerrt, den ich in ihm so oft wie kein Zweiter gesehen hatte und er reagierte weder auf mein Rufen, noch auf sonst irgendwas. Er hatte gespürt, dass es zu Ende geht und er wollte damit nicht alleine sein. Er bat mich, ihm beizustehen, weil er Angst vor dem hatte, was kommt. Er hatte nach all dieser Scheiße gehofft, dass ihn jemand begleitet, wenn es soweit ist. Und ich hatte währenddessen Pillenschachteln für einen Choleriker eingesammelt.

Es gibt fürwahr Augenblicke, die man leichter vergisst.

 

 

 

 

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Ein Kommentar

  1. Gelesen am 20.04.18 bei Shared Stories, Meet Mitte, Chausseestr. 86

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