Vom sichtbaren Ende der Unschuld

Die beiden großen Pariser Bahnhöfe, der Gare du Nord und der Gare de l'Est liegen nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Die Gebäude befinden sich beide im 10. Arrondissement und ihre Gleise führen direkt nach der Ausfahrt beide nach Norden durch das 18. Arrondissement, in dem heute wie nirgendwo sonst in Paris die Armut der Stadt so deutlich wird, dass man an ihr nicht mehr vorbeisehen kann. Das Viertel, dessen Hotspot der nach einer Äbtissin und einem Revolutionär benannte Metrohalt "Barbès-Rochechuart" ist, nimmt besonders viele Migranten aus Afrika und den arabischen Ländern auf. Die erste und zweite Generation der Einwanderer hat es geschafft, trotz der exorbitanten Mieten in Paris hier Wurzeln zu schlagen. Unter ihnen leben aber auch die Ärmsten der Armen, weil sie hier selten vertrieben werden. Nachts sieht man sie entlang der Gleise, wenn sie sich in den Torbögen der Mauerwerke ihr Nachtlager bereiten.

In Paris kosten 10qm Wohnraum in etwa 600 Euro. Für jedes große Bier oder jeden "Grand Café" in den zentralen Brasserien und Cafés legt man zehn Euro an. Selbst der Supermarkt nimmt für die meisten Lebensmittel glatt doppelt so viel, wie außerhalb der Stadtgrenze. Denn alles in Paris bewegt sich innerhalb des Raums, der durch die umfahrende Stadtautobahn "Péripherique" begrenzt ist, während die Bevölkerung ständig zunimmt. Offiziell leben im Großraum Paris rund 13 Millionen Menschen, aber in den Außenbezirken gibt es kaum Überlebenschancen für Flüchtlinge. Die sozialen Programme in den großen, stigmatisierten Problemsiedlungen der Cités sind damit beschäftigt, die Fehler der letzten Jahrzehnte auszubügeln und bieten für die Bewohner schon kaum genug, geschweige denn für Flüchtlinge. Die ziehen es vor, entlang der Gleise in den Torbögen der Bahnhofsmauern zu übernachten und tagsüber auf dem Boulevard de Clichy, nur 100m entfernt von der Moulin Rouge, mit Sack und Pack auf der Straße zu sitzen. Jährlich besuchen 36 Millionen Touristen Paris und davon werden die meisten den Montmartre sehen. Und nur wenige hundert Meter davon sitzt unübersehbar das Elend – und man kann nichts dagegen tun.

Auf der Matratze sitzen Mutter, Vater und drei Kinder an die Häuserwand gelehnt und schauen ausdruckslos in die Gegend. Oft fällt stundenlang keine einzige Münze in den aufgestellten Pappbecher und doch scheint es ausreichend, um irgendwie zu überleben. Welche Zukunft sollen diese Menschen haben? Ihre Kinder gehen nicht in den Kindergarten oder in die Schule. Ich bezweifle, dass sie überhaupt Französisch sprechen. Sie sitzen den ganzen Tag dort und wenn sie es nicht tun, reicht die Fantasie nicht aus, um sich vorzustellen, was sie in der übrigen Zeit treiben. Sie sehen so ärmlich aus, dass man sich wünscht, an ihrer Armut vorbeisehen zu können, aber es gelingt nicht. Wie sollen diese Menschen dort jemals integriert werden? Sie lernen weder die Sprache, noch den Umgang noch irgendetwas vom Leben der Stadt, geschweige denn werden sie je eine Ausbildung haben oder eine Perspektive auf einen Job. Paris hat jahrzehntelang durch die Politik der Vertreibung versagt, indem Menschen ohne Bildung und Aussicht auf Jobs in die Banlieues vertrieben wurden, was aber auch unter anderem zur Folge hatte, dass das Herz von Paris immer weiter den touristischen Traum der Liebe und Romantik träumte, während in den Randbezirken "der Bär tobte". Jetzt, so sieht es fast aus, kommen sie zurück und setzen sich auf die Boulevards, um dort zu leben.

2015 sah ich ein Zeltlager unter der Hochbahn, die vom "Barbès", wie die Leute hier kurz sagen, in östlicher Richtung zu den Stationen La Chapelle und Stalingrad führt, in dem gut und gerne 600 Personen lebten. Mitten zwischen zwei hochfrequentierten Fahrbahnen. Und zwischen den Zelten nochmal massenhaft Menschen, welche gänzlich ohne Schutz mit ihren Matratzen dazwischen lagen. Heute ist das Lager eine geräumte Baustelle. Niemand weiß, wohin die Leute vertrieben wurden, aber eins scheint offensichtlich: Sie kamen zurück und verteilen sich jetzt zu Füßen des Montmartres, des "heiligsten Herz" Sacré Coeur. Sie haben nichts, nichts, nichts. Sie sitzen einfach nur so rum, leben vom Müll und träumen vielleicht von einem besseren Leben. Ihnen bleibt auch nichts mehr als betteln. Sie kommen von der Straße, sind auf der Straße und werden für immer dort bleiben. Ihre Perspektive ist gleich NULL. Und es werden immer mehr mitten in Europa, im Herz der Grande Nation und sie warten gemeinsam mit den Parisern und den Touristen darauf, bis sie wieder gewaltsam weggeräumt werden, um am nächsten Tag wieder dort zu sitzen. In einer Stadt, in der wie kaum an einem anderen Ort der Welt, Armut und Reichtum so nahe aufeinander treffen, scheint die Situation komplett ausweglos.

 

 

 

 

*************

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert