Morgens war Disco. Ich hatte fünf oder sechs von diesen Zeitschaltuhren in Reihe geschaltet, um ganz sicher zu sein. Kurz nach Sechs ging es los. Die Kaffeemaschine setzte sich in Gang und furzte ihre Brühe sorgfältig aus. Der Raum erfüllte sich mit Kaffeeduft. Anderen hätte das schon gereicht, aber ich schlief wie ein Stein. Als nächstes war der Heizstrahler dran. Mit einem mir sehr vertrauten Knacken und Knistern kam er langsam in Gang und ließ die Stäbe glühen, damit ich mir beim Waschen nicht den Arsch abfriere. Ich ratzte weiter. Dann schaltete sich die Herdplatte mit dem gefüllten Wasserkessel an. Ich musste mein Wasser selbst aufkochen, weil es nur kaltes Wasser aus dem Wasserhahn gab. Danach folgte das Küchenlicht, das Radio, der Wecker und schließlich das Zimmerlicht. Ich schlief weiter. Zum ersten Mal regte ich mich nach dem mechanischen Wecker, den ich zusätzlich zum Lärm einmal runterklingeln ließ. Er hatte einen simplen, aber sehr wirksamen Mechanismus, wenn man nicht vergaß, das Läutwerk am Vortag aufzuziehen – und er machte einen Höllenkrach. Wenn ich Glück hatte, reichte das aus. Wenn nicht, kochte der Kaffee ein und das Wasser über, der Heizstrahler ließ den Stromzähler kreiseln und die Radiostimme sagte irgendwann: „Es ist 9 Uhr. Die Nachrichten“.
Niemand schlief so fest wie ich. Ich kannte niemanden und alle die ich kannte, kannten auch keinen. Wenn ich es bis zum Waschbecken schaffte, war die Gefahr gebannt, dass ich unterwegs zu Boden sinke und einfach weiterschlafe. Ich goss die kochende Wasserbrühe in die Keramik und drehte Kaltes dazu. Mit dem ersten Wasserschwall im Gesicht wurde es dann besser. Wenn alles erledigt und angezogen war, nahm ich den Schwarzen von der Heizplatte. Er verdiente seinen Namen und hätte auch Wirkung als Gegengift einer Narkose gezeigt. Ich fütterte meinen Ingo, die Ratte, mit einem seiner Lieblings-Quarktöpfchen und mich mit etwas von dem roten Libanesen, den man neuerdings im Bürgerpark zu zivilen Preisen erstand. Ich gab kräftig was rein, denn der Weg zur Arbeit war weit und ich ertrug diese Tristesse der Stadt, die sie morgens zwischen Abgasen, grau-trübem Himmel und missmutigen Gesichtern im Bus ausstrahlte, einfach nicht anders. Die letzten beiden Bushaltestellen ging ich gern zu Fuß, ausgestattet mit einem fetten Sennheiser auf den Ohren und darin Musik, die weiterhin sehr zum Aufwachen taugte. Erst mit dem Betreten des Gebäudes war das ganze Ritual, vom ersten Umdrehen im Bett bis zur Überwindung, jemandem „Guten Morgen“ sagen zu müssen, für mich beendet. Jetzt begann Phase Zwei. Das Überstehen des Arbeitstags. Wobei es mehr Tag als Arbeit war.
Ich war in der Kindergeldkasse am Empfang beschäftigt. Die Eltern kamen, meist in Begleitung ihrer Kinder, um irgendwas mit Papieren und Formularen zu erledigen. Ich saß in meinem Glaskasten hinter der Scheibe mit der Durchreiche, stoned und gleichmütig, sah mir das Treiben im Wartezimmer an. Die Langeweile unterbrach ich ab und an damit, mir was in die kleine Pur-Pfeife zu stopfen, die ich stets mit mir führte. Dann riss ich das Fenster kurz auf, setzte das Feuerzeug an, nahm einen tiefen Zug, atmete aus dem Fenster aus und schloss die Kammer wieder. Wenn jemand vor den Schalter trat, fragte ich was sie wollten, nahm dann den entsprechenden Laufzettel aus dem Kasten, füllte 115, 231 oder 140 ein und erklärte ihnen, wie sie hinkamen. Das war alles. Ansonsten las ich Zeitungen oder beschäftigte mich mit dem Lösen von Schachdiagrammen. Aber auch das hatte irgendwann mal ein Ende. Trotzdem war noch sehr viel Tag übrig.
Eines Tages rettete mich ein wunderbarer Zufall. Ich hatte gerade wieder kräftig was nachgeladen, als eine junge Frau mit ihren beiden Kindern reinkam. Beide Kids quängelten und hatten nicht die geringste Lust darauf zu warten, bis irgendjemand dazu bereit war, ihrer Mutter einen Stempel aufs Formular zu drücken. Ich weiß nicht mehr, was mich dazu trieb, ihr anzubieten, auf die Kleinen aufzupassen. Vermutlich pure Langeweile. Aber ich tat es. Sie dankte und ging inzwischen in die 115, 231 oder 140. Keine Ahnung, was man mit Kindern anstellt, dachte ich. Also nahm ich die Kiste mit der Holzeisenbahn und schüttete sie komplett auf dem Boden aus. Dann setzte ich mich hin und begann mit Entschlossenheit, den Güterbahnhof nachzubauen. Die beiden Kleinen standen eine Weile neben mir und schauten sich das an. Als sie merkten, dass ich sie ignorierte, mischten sie mit. Ihre Mutti war einen verdammt wichtigen Stempel suchen. Jedenfalls brauchte sie sehr lange und so bastelten wir inzwischen eine ausgewachsene Eisenbahnlandschaft auf den Teppichboden. Als sie zurückkam, waren wir mitten auf der Strecke zwischen Niagara und Timbuktu.
Wir bemerkten nicht mal, dass sie nach ihrer Rückkehr schon eine Weile im Zimmer stand und uns zusah. Dann schaute sie mich anerkennend an und sagte was derart, dass sie ihre beiden schon lange nicht mehr so ruhig und beschäftigt sah, bedankte sich für meinen großen Aufwand und packte ihren Nachwuchs wieder ein, was prompt zu lautstarken Protesten führte. „Welchen Aufwand?“, dachte ich und baute bis zur Endhalte in Timbuktu weiter. Dann betrachtete ich mein Werk sehr zufrieden und stellte fest, dass ich über das Spielen die Zeit selbst nicht mehr bewusst wahrnahm und inzwischen eine gute Dreiviertelstunde einfach so verpufft war.
Mittags kamen zwei weitere Muttis mit je einem Mädchen im Kindergartenalter rein. Nachdem der Zettel geschrieben war, witterte ich sofort einen neuen Spielauftrag und schlug vor, mit den Mädels eine Straßenbahn durch die Stadt zu baggern, was großen Anklang fand. Von nun an vergingen die Tage wie im Flug. Ich orderte beim Chef mehr Spielsachen und stattete das Wartezimmer mit allerlei Murmeln, Spielklötzen, Kränen, Baggern, LKWs und Spielzeugeisenbahnen aus. Schon bald sprach sich herum, dass es bei der Kindergeldkasse einen Spielservice für die Kleinen gab und ich erlangte eine Art lokaler Berühmtheit als der Mann, der gut mit Kindern kann. Dabei war ich einfach nur breit und dermaßen entspannt, meiner Fantasie so freien Lauf zu lassen, dass die Kids meinen Geschichten fasziniert folgten. Mit der Zeit managte ich es, mehrere Fantasien miteinander zu mischen, so dass die Kinder meinen Ideen folgten und ihre Spielwelten ineinander verschachtelten. Das Ganze wuchs sich nach und nach mehr zu einer Kita aus, die nebenher noch Stempel für Formulare bereit hielt. Bis zu dem Tag, an dem ich nach einem Zwischenzug am Fenster vergaß, die Pfeife einzustecken.
Stattdessen legte ich sie auf einen der Güterwaggons des Lummerland-Expresses direkt hinter die dicke Lokomotive Emma und ließ sie einige Runden durchs Zimmer kreisen. Mir wurde einfach nicht bewusst, was ich da im Kreis rumschob. Für mich war das der gefällte Riesenbaum aus dem Märchenwald und für meine Mitspieler zweifelsfrei auch. Nicht aber für den aus Nummer 231 zurückgekehrten Vater, der das Subjekt mit dem zuvor aus meiner Kabine wahrgenommen, süßlichen Duft messerscharf kombinierte und ein Riesenfass aufmachte. Ich überzeugte die Kinder davon, dass sich die unendliche Geschichte ganz bestimmt morgen fortsetzt, obwohl ich wusste, dass die Story zu Ende erzählt war und räumte den ganzen Krempel zurück in die Kisten. Die Kinder zogen ab und ich setzte mich zurück in meinen Glaskasten, um die Laufzettel akkurat zu stapeln. Als ich überhaupt nichts mehr zu tun hatte, was meinen Aufenthalt noch rechtfertigte und meinen Mantel überzog, stand schon der Chef die Tür. Er sah mich an, als ob ich der Unzucht mit Kindern angeklagt sei, aber ich nahm ihm den Wind aus den Segeln und hob die Hand zum Zeichen, dass er sich das sparen kann. Am nächsten Morgen kochte das Wasser über und der Kaffee ein. Aber die Bude war schön warm, weil der Heizstrahler seit Stunden röhrte.
*************