Für Westkinder war der Geschichtsunterricht und manchmal auch Deutsch oder Erdkunde die einzige Möglichkeit, sich mit dem anderen Deutschland zu beschäftigen. Meistens stand auf dem Lehrplan, dass auch die andere Seite ZU UNS gehört. Ich hatte mir aber schon früh in den Kopf gesetzt, gegen den Strom zu schwimmen, die DDR als souveränen Staat anzuerkennen und diesem ewigen Gejammer nach Wiedervereinigung vehement entgegen zu treten. Das bescherte mir früh die volle Aufmerksamkeit meiner Lehrer und die Bewunderung meiner Mitschüler, denn ich stritt mich gerne mit dem Lehrpersonal, insbesondere wenn die politische Couleur gut zu erkennen war und wieder mal das Gespenst der „Diktatur“ die Runde machte. In der Regel wurden dumme Vergleiche zur Nazizeit gezogen. Ich hatte leichtes Spiel in diesen Debatten. Irgendwann müsse man eben akzeptieren, dass dieser unselige Krieg verloren wurde, es zwei deutsche Staaten gäbe und man die Teilung anerkennen müsse, sagte ich. Und schließlich sei die Mauer eine mittelbare Folge des Dritten Reichs und die Teilung ein Grundpfeiler unserer eigenen Politik. Es war einfach und bequem, immer wieder zu behaupten, hier sei das wahre und gerechte und bessere Deutschland. Schließlich gab es ja auch Korea, Irland und Vietnam auf der Weltkarte. Meine Argumente waren Kanonenschläge und fuhren hohe Kontersiege ein.
Tatsächlich hatte ich mit Ostdeutschland – der „Zone“, wie die hasserfüllte BILD schrieb – überhaupt nichts zu tun. Erst mit 15 lernte ich Ost-Berlin kennen und es war grau da drüben. Noch viel grauer als im Westen und in den 80ern war schon die Insel West-Berlin an Grautönen kaum zu überbieten. Wir staunten über palettenweise Milch in der Karlshorster Kaufhalle und an der Würstchenbude unter der S Bahn Brücke gab es Eis, aber keine Würstchen. Robuste und selbstbewusste Frauen steuerten die ungarischen Ikarus-Gelenk-Busse durch den Stadtverkehr und wirbelten die 12 Gänge mit dem Schaltknüppel rauf und runter. Die Fahrkarte kostete 20 Pfennig und kam immer aus dem Automat, wenn man dran kurbelte – ob nun mit oder ohne Münze. Ich erinnere mich an das Kaufhaus der Republik auf dem Alexanderplatz, wo man AMIGA-Schallplatten kaufen konnte. Und obwohl jeder von uns 25 Westmark in 25 Ostmark umtauschen musste, hatten wir abends immer noch was übrig und klemmten es in eine Parkbankritze, bevor wir wieder rüber machten. Später war ich noch zwei oder drei mal drüben, aber sehr viel weiter als rund um den Bahnhof Friedrichstraße kam ich nicht. Heute, wo es dieses halbe Deutschland gar nicht mehr gibt, da wünsche ich mir, dass ich öfter auf ’ne Molle und ’nen Korn geblieben wäre.
Meine einzige kräftige Portion Ostluft atmete ich 1987 ein, mit dem Sozialistischen Studentenbund für zehn Tage in Cottbus. Endlich mal eintauchen in die DDR, abseits vom Alexanderplatz und irgendwelchen Postkartenmotiven Ost-Berlins! Und weil die DDR für mich ein souveräner, ausländischer Staat war, packte ich wie für jeden anderen Urlaub erst mal 200 Westmark ein, die ich zum inoffiziellen 1:7 Kurs in der Bank eintauschte. Dann setzte ich mich, bewaffnet mit zwei durchschnittlichen DDR-Monatsgehältern, in den Zug der Sozialisten. Wie unsinnig das war, merkte ich erst, nachdem es in Cottbus gar keinen Plattenladen gab und sich als sinnvolle Mitbringsel nur Bücher aus einem Antiquariat anboten. Dort erstand ich unter anderem die gesammelten Werke von Marx und Engels – und etwa dreißig Schachbücher, die ich mir von unseren sozialistischen Brüdern nachschicken ließ, weil sie zu schwer zum Tragen waren. Das Kaufhaus aus den 60ern in der Innenstadt, das an Hässlichkeit kaum zu überbieten war, wies auf einer Tafel am Eingang trotzdem einen Architekturpreis aus. Und es hatte einiges zu bieten, was man für eine gelungene Grundsatzdiskussion über die politische Weltlage brauchen konnte.
Eindrucksvoll bleibt mir eine russische Wodka-Marke in einer kugeligen Flasche in Erinnerung, von der wir über die zehn Feiertage das komplette Angebot der Fachabteilung für harte Alkoholika leerten. Dazu gönnte ich mir Zigarren der Marke „Sprachlos“ – die hießen tatsächlich so – und einen robusten Rucksack des VEB Textima Qualitätswaren Kombinat, den ich noch einige Jahre lang erfolgreich befüllte. Derart ausgestattet, machten wir bald gute Freunde im Studentenwohnheim. Wir sahen uns täglich und zogen Tag und Nacht gemeinsam los. Trotzdem wollte mein Ostgeld nicht weniger werden, auch wenn ich ein Mal wie ein sozialer Großkapitalist versuchte, alle samt Vor- und Nachspeisen und Getränken einzuladen, aber es gab nur ein einziges Gericht auf der Karte und so kam ich mit vollen Taschen wieder raus. Die friedliche Revolution war da nur noch zwei Jahre entfernt, aber niemand von uns hielt es nur ansatzweise für möglich, dass die Mauer tatsächlich mal fallen könnte. Mehrere offizielle Termine verkürzten uns die Tage, unabwendbar auch bei der FDJ und irgendwelchen Sekretären. Wir besuchten die VEB Fortschritt Kombinat Landmaschinen und durften schließlich im Trabi mitfahren, weil wir das unbedingt wollten. Einer der beiden Höhepunkte war ein Disco-Abend mit besserer Musik, als ich sie aus unseren eigenen Tanzschuppen kannte. Der absolute Knaller war aber ein 60-er-Jahre Abend, bei dem sich die Mädchen so kunstvoll und schick und lecker hermachten, dass mir die Augen aus dem Kopf fielen und so verfiel ich einer kurzen und heftigen gesamtdeutschen Romanze.
Sie war LKW-Fahrerin und träumte davon, eines Tages einen großen West-Truck zu fahren. Dieser Traum war so tief in ihre Seele geschrieben, dass ihr noch vor dem Mauerfall ein riskanter Fluchtversuch glückte, indem sie sich in einem Milchwagen, eingetaucht in der guten Brandenburger Milch, über die Grenze schippern ließ. Sie erzählte mir davon, als ich sie mich anfangs der 90er anrief. Sie hatte es tatsächlich geschafft und steuerte einen riesigen Volvo durch ganz Europa, mit dem sie in unserer kleinen Straße einfuhr wie mit der AIDA auf der Spree. Gemeinsam mit ihrem Freund kam sie gerade aus Spanien und war auf der Suche nach einem soliden Bett, was ich gut verstehen konnte, also überließ ich ihnen meine Matratze und pennte woanders. Nicht jeder kann von sich behaupten, in einem Land gelebt zu haben, das es heute nicht mehr gibt und außerdem seinen Lebenstraum zu verwirklichen.
Und ich hatte dieses seltsame halbe Deutschland wenigstens noch besucht, bevor es von der Karte verschwand. Außerdem tat es meinem Realismus gut, von nun an mehr darüber zu wissen, was ich so leidenschaftlich verteidigte. Nach allem in diesen frühlingshaften intensiven Tagen im Jahr 1987, als die Mauer noch auf Fundamenten für Jahrzehnte stand und uns die Energie und Spannung und Leidenschaft durch die Tage und Nächte trug: Am Ende blieben vor allem die letzten Stunden in Erinnerung. Wie wir davon erzählen sollten, wie es in Paris und in Rom und in Istanbul ist, wo sie alle noch nicht waren und wo sie alle noch hin wollten und wo sie aller Voraussicht nach nie sein würden. In dieser Nacht beschloss ich unter wesentlichem Einfluss des guten Kugoloff-Wodkas, meine restlichen fünfhundert Ostmark in die Ritzen des Sofas zu stecken, auf dem ich saß. Am Morgen verabschiedeten wir uns, packten unsere sieben Sachen ein und stiegen wieder in den Zug nach Westen. Ich fühlte mich elend und das blieb auch so, bis ich wieder zuhause war.
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