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Olaf war kein großer Redner. Aber wenn es irgendwo was zu tun gab, was zu schrauben, was zu bauen, was zu löten, dann war er der richtige Mann. Er konnte einfach alles. Vermutlich gab es auch Dinge, in denen er nicht der Allerbeste war, aber angemerkt hat man es ihm nie. Wenn ein Dach zu decken, eine Hauswand abzustützen, eine Drainage zu legen oder ein Fenster einzusetzen war, dann rief man Olaf. Er wusste, wie das mit dem Fliesenlegen, mit dem Malern oder dem Einbauen von Türen ging, er goss Beton, verlegte Teppichböden und baute Schränke. Was immer es handwerklich zu tun gab – die Lösung hieß Olaf.
Olaf war der Älteste von vier Söhnen, aber er war nicht der Älteste unter seinen Geschwistern, denn alle seine sieben Schwestern waren älter als er. So war er zwar einerseits in der Rolle des Machers und Beschützers, wenn es um seine Brüder ging, aber er war auch der Benjamin unter seinen Schwestern, die beharrlich behaupteten, es besser zu wissen. Elf Kinder hatte mein Opa und Olaf war die Nummer Sieben.
Meine frühesten Erinnerungen an ihn beginnen erst damit, dass ich ihn mit Zwölf oder Dreizehn irgendwo bei einer Familienfeier sah, aber es gibt ein Kinderfoto von mir in einem Laufstall im Hof, wo er, damals selbst zwölf oder dreizehn, zu mir niederkniet, damit wir beide aufs Bild passen. Jedenfalls, für meinen Onkel Olaf muss ich spätestens seit meiner Schulzeit, als ich in der Realschule war und damit begann, mich politisch zu bilden, eine Art unerreichbarer Intellektueller gewesen sein. Ich merkte das daran, dass er sich immer, wenn es zu sehr ins Detail mit den politischen Diskussionen ging, zurückzog mit den Worten „aber dazu bin ich nicht schlau genug“ oder Ähnliches. Vielleicht hatte er einfach nur keine Lust auf irgendwelches Geschwafel – und ich glaubte ihm das damals nicht. Aber heute weiß ich, dass er es genau so meinte. Ich meine, ich konnte nicht mal einen Nagel geradeaus in die Wand hauen, während er ganze Häuser baute, aber um über die politische Weltlage zu philosophieren, dazu „war er nicht schlau genug“?
Ich habe nie begriffen, warum er sich in diesen Dingen so klein gemacht hat. Selbst wenn er nur sehr kurzsichtig argumentiert hätte und selbst wenn er Dinge miteinander verwechselt hätte: Ich bewunderte ihn und ich hätte seine Meinung zu allem, zu Gott und die Welt, nur zu gerne gehört und ich hätte sie auch akzeptiert. Wenn es um meine eigenen schrägen Ansichten ging, da liebte ich es, mich nächtelang heiß zu reden, mich mit Worten zu messen bis aufs Messer, selbst wenn ich wusste, dass ich eigentlich falsch lag. Ich diskutierte einfach weiter mit meinen schlechten Argumenten, redete sie stark und war voll im Fight, nur um zu sehen, ob ich damit durchkomme. Ich war in allen möglichen Aktionen, Protesten, politischen Engagements verstrickt, aber ich hatte nie genug auf’m Teller. Und wenn mit dem Geldverdienen gar nichts mehr ging, fragte ich Olaf – und der wusste immer was.
Morgens erwartete uns meistens der Auftraggeber und erklärte uns, was zu tun sei und ich wusste, er wird das alles machen und mir dann sagen, wie ich ihm helfen kann und genau so lief es auch. Ohne, dass ich je irgendwas schweißen, mauern, löten oder kleben musste. Und am Ende des Tages kriegte ich meinen Anteil und war glücklich. Ich hab auch keine Ahnung, wie ich das damals auf den Dächern mit meiner Höhenangst schaffte, aber ich glaube, ich hatte gar keine. Heute schwanke ich wie ein Besoffener, wenn ich irgendwo runtersehen muss, während ich mich krampfhaft an irgendwas klammere, was ich zu fassen kriege. Aber damals balancierte ich auf dem Dachfirst mit meinen Ziegeln entlang wie ein Trapezkünstler, als ob ich nie was anderes getan hätte und schleppte Holz, Nägel, Hammer, Werkzeug und alles, was Olaf so verbaute.
Nur in den Pausen, wenn wir unsere Stullen hinter uns hatten, tranken und mit Rauchen beschäftigt waren, da wurde es auf einmal still und irgendwie war ihm die Stille unangenehm, also begann er wieder ein Thema und egal wie sehr ich mich bemühte, den Ball schön flach zu halten; – Der Punkt an dem er die Kehrtwende in sich zurück zog, kam stets zu früh. Natürlich redeten wir auch über die Familie und manchmal kam was Onkelhaftes aus ihm raus, aber nicht sehr oft. Mir ist heute klar, dass er Angst hatte, er könne nicht mithalten oder ich könnte irgendwas sagen, wovon er keine Ahnung hatte, dabei hätte ich gern über alles mit ihm geredet und selbst das schätzte er falsch ein. Er hielt sein eigenes Leben und sein Handwerker-Dasein, seine Schulbildung und Lebensgeschichte für so langweilig und uninteressant für mich, dass er fürchtete, ich würde genau das sagen. Dabei war ich gelassen und entspannt und zufrieden, selbst wenn wir über Erdbeermarmelade sprachen. Einmal sagte er mir, dass er oft wie seine älteren Schwestern Namen verwechselte und Menschen mit den falschen Namen ansprach, worüber ich lachen musste, denn ich wusste genau, wovon er sprach. Und er sagte mir, dass er Angst hätte, irgendwann dement zu werden. Und ich antwortete, er solle sich keine Sorgen über etwas machen, was er ohnehin nicht beeinflussen kann, worauf er wieder weiter schwieg.
Das ist der eine Teil aus der Geschichte, dass ich nämlich noch genau nachfühlen kann, wie ich mich damals dabei fühlte und nicht wollte, dass sein Schweigen eine so künstliche Distanz nur aus Angst vor der Blamage aufbaute. Der andere Teil der Geschichte ist, dass er heute tatsächlich dement ist und sich an nichts erinnern kann. Und dass ich ohne Chef, ohne Berufsschule, unnütze Anweisungen, Stechuhren, Abmahnungen, blöde Witze, Belehrungen, Katzbuckeln, überflüssige Besäufnisse, dummes Geschwätz, eigenes Werkzeug kaufen, hirnrissige Prüfungen und verschwendete Lebenszeit in mindestens zehn verschiedenen Handwerksberufen arbeitete, dafür auch noch bezahlt wurde und danach genau wusste, dass es einfach nichts für mich ist.
Ich denke gern an unsere Zeit zurück, Olaf.
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