Als Kind der 60er war Politik allgegenwärtig. Klar gab es auch bei uns Schüler, die sich nicht drum kümmerten, aber im Politikunterricht konnten wir ohne weiteres gute Diskussionen führen. Es gab auch welche, die sich schon früh für bürgerliche Gruppen wie die „Junge Union“ oder die „Jungen Liberalen“ entschieden, aber die waren auch sonst schon für alles verloren, was Spaß machte. Die Regel war, dass wir bei Probewahlen in der Schulklasse irgendwas um die 80% für die Grünen und irgendwas links von der SPD erreicht hätten, wenn es die Linken damals schon gegeben hätte. Und so sah auch die Wahlbeteiligung aus. Politik hatte noch längst nicht das Image, das man ihr heute zuschreibt. Aber wer was auf seinen politischen Verstand hielt, bekämpfte die etablierten Parteien und vor allem das, was der Staat daraus machte. Eines der großen Themen der Siebziger und frühen Achtziger war die Startbahn West des Frankfurter Flughafens. Am 3.11.81 kam es im Frankfurter Stadtteil Nordend zu einer heftigen Auseinandersetzung bei einem Polizeieinsatz gegen Demonstranten, bei dem mehrere Teilnehmer schwer verletzt wurden. Ich geriet eher zufällig in die Schlacht, weil ich wegen was ganz anderem unterwegs war, an was ich mich heute aber nicht mehr erinnere. Kurz zuvor, am 22.09.81, starb Klaus-Jürgen Rattay bei einer Demo gegen die Räumung eines besetzten Hauses in Berlin, weil er von einem Bus überrollt wurde. Einige Zeit später wachte ich morgens auf und notierte mir folgendes:
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Warum schicken sie mich auf meiner allerersten Dienstfahrt, zum ersten Mal allein auf dem Führerstand der Straßenbahn mitten in eine Demo voller wütender Steinewerfer? Die Molotows fiegen und die Straße sieht aus wie ein Schachtfeld. Da liegt ein ziemlich großer Stein in meiner Schiene und ich schiebe ihn mit der Bahn vor mir her, bis er zur Seite rutscht. Es kracht und knarzt fürchterlich. Dort drüben kommen die Bullen, behelmt, bewaffnet und beschirmt treiben sie den Block geschlossen in meine Richtung, alles mögliche fliegt gegen meine Bahn. Schon vor zwei Stationen sind auch die letzten Passagiere geflüchtet, die Bahn ist total leer. Steine fliegen gegen die Bahn. Ein Feuer ist auf den Schienen, Ich fahre drüber. Nur weg hier. Überall Rauchschwaden. Wie im Krieg. Und ich steuere den Straßenbahnzug mit beiden Wagen ganz allein durch das Chaos. Und das auf meiner ersten Fahrt. Der Block kommt näher, mit dem Rücken zu mir stehend schleudern sie alles Greifbare – rückwärts laufend getrieben von der uniformierten Polizeieinheit. Es stinkt, es lärmt, es kracht an allen Ecken und Enden. Und dann greifen die Uniformierten an. Sie stürmen vorwärts und alle Demonstranten rennen auseinander, alle in verschiedene Richtungen und während ich Gas gebe und versuche, die Straßenbahn aus dem Wahnsinn rauszubringen, rennt einer der Jungs direkt vor meine Fahrerkabine. Obwohl ich sofort bremse, ziehe ich ihn unter die Karre. Es rumpelt und kracht und ich sehe, wie er unter dem Wagen verschwindet und ich spüre, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu überfahren. Ich schließe die Augen und hoffe, dass es aufhört zu rumpeln.
Später sitze ich mit mehreren Menschen in einer Polizeiwache. Sie reden über mich, aber ich kann sie nicht hören. Dann kommt einer zu mir und sagt: Du hast den Sohn von Paul McCartney überfahren! Er zeigt mir eine Zeitung und tatsächlich, da steht es: „Straßenbahnfahrer tötet McCartneys Sohn bei einer Demonstration gegen die Startbahn West“, steht da in fetten Lettern. Ich schäme mich und quittiere den Dienst.
Dann ruft jemand an. Paul McCartney will mich sehen und mit mir reden. Als ich sein Haus betrete, stelle ich mich darauf ein, dass er mich hassen und beschimpfen wird, weil ich seinen Sohn tötete. Er ist jedoch überaus freundlich und bittet mich herein. Ich bleibe argwöhnisch. Er zeigt mir sein großes Haus, die schöne Einrichtung und seinen Lieblingsplatz – auf der Ledercouch direkt am großen Fenster, wo er in seinen schönen, gepflegten Garten schauen kann. Linda erscheint. Auch sie ist überaus nett und fragt uns, ob wir einen Kaffee möchten und ich nehme dankbar an. Dann sitzen wir schweigend auf der Couch und schauen nach draußen in den Garten, bis der Kaffee kommt. Linda schenkt uns ein, wir bedanken uns und dann sagt Paul: „Hör zu. Du denkst sicher, dass ich Dich und diesen Tag verfluche. Aber so ist es nicht. Es war seine Entscheidung, an dieser Demo teilzunehmen und ich hätte es wahrscheinlich begrüßt, wenn ich es gewusst hätte. Du kannst nichts dafür. Du hast nur deinen Dienst getan und warst zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich bin dir nicht böse. Du hattest nie im Sinn, meinen Sohn zu töten. Es schmerzt mich sehr, aber ich verzeihe dir. Mach dir nicht das Leben schwer, indem du das dein ganzes Leben über mitschleppst. Du bist unschuldig. Du bist ein guter Mensch. Ich weiß es.“ Ich sehe ihn an und kann es nicht fassen, dass er mir vergibt. Was für ein großer Mensch, denke ich. Dieser Mann da, egal ob er nun ein Beatle ist oder ein Müllmann, war Vater eines Sohnes und hat ihn verloren, weil ich ihn überfuhr. Er könnte mich für alle Zeiten hassen und er ich könnte das gut verstehen, wenn er mich nie im Leben sehen oder sprechen will. Stattdessen hat er nichts anderes zu tun, als mir mein schlechtes Gewissen zu nehmen und vergibt mir.
Dieser Traum hat mich schwer beeindruckt. Tags darauf kaufte ich mir die „London Town“ der Wings.
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