Mit 14

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Mit 14 war ich zum dritten Mal bei den Pfadfindern dabei. Und es schüttete schon wieder wie aus Kübeln. Das war schon eine richtige Tradition. Auf Pfingsten freuen, mit Gleichaltrigen zelten – und dann tagelang aus dem Zelt in den Regen starren und sich beim Kräutertee Geschichten erzählen. Dieses Jahr war es ganz besonders heftig und wir mussten sogar Gräben rund ums Zelt ziehen. Es war ein großes, schwarzes Zelt für zehn oder zwölf von uns, das wie ein Indianer-Tipi aussah. Es war aus schwarzem, schweren Segeltuch und oben war es an den tragenden Stöcken zusammen gebunden. Wir hatten drei Stück davon aufgebaut und als wir damit fertig waren, wollten die Erwachsenen uns zum Kräuter sammeln, Bäume erklären oder Wandern überreden, aber da es so heftig regnete, dass wir alle zugleich depressiv wurden, fiel auch das ins Wasser. Um uns nicht vollends fertig zu machen, hatten wir frei bis abends um 9, dann wollten wir uns wieder im Zelt treffen. Jetzt war es 6 und wir strichen zu dritt in Regenklamotten über den Zeltplatz. Wir fanden eine Art Klubheim mit Ausschank, orderten je eine Cola und erzählten uns von zuhause und was uns so beschäftigte. Dann fragte ich die Frau hinter der Theke, was man hier noch so trinken könne und die sagte, wir haben Bier, aber das dürft Ihr noch gar nicht trinken – oder seid Ihr etwa schon 16? Wir nickten eifrig im Takt und sie stellte uns drei bräunliche Glasflaschen vor die Nase, auf denen ein altes, buntes Wappen zu sehen war. „Kronenbourg“ stand drauf.

Wir nahmen die Flaschen in die Hand, prosteten uns zu wie die Profis und probierten vorsichtig davon. Es schmeckte. Das heißt, es schmeckte eigentlich nicht nach viel, was uns entgegen kam, denn unsere Erfahrung mit Bier war, dass es zu bitter zum Trinken ist. Es war so, als ob man versuchte, uns das Biertrinken in dieser spartanischen Tränke auf einem öden Campingplatz im Elsass, so einfach wie möglich zu machen. Was ja auch stimmte. Auf alle Fälle wurden unsere Gespräche direkt lebhafter und uns fiel jede Menge ein, was wir unbedingt erzählen mussten und auch wenn wir ahnten, dass es mit diesem Zaubertrank zu tun hatte – so wollten wir damit auf gar keinen Fall aufhören, schon gar nicht an einem so öden Regentag. „Dürft Ihr denn noch eins trinken?“, fragte die Frau nach der ersten Runde und ich sagte, mit 16 na klar, und damit war es beschlossen. Wir prosteten uns wieder zu wie die Profis und setzten die zweite Flasche an. Dieses Kronenbourg hatte es echt in sich. Ich dachte drüber nach, wie wenig wir eigentlich vorhin noch von uns wussten und wie komisch ich die anderen heute mittag noch fand, als wir die Gräben aushoben. Jedenfalls leerten wir die zweite und danach noch die dritte Flasche aus den bräunlichen Flaschen mit dem schönen, bunten Wappen. Wir waren jetzt richtig gut drauf und ich freute mich auf die kommenden drei Tage, selbst wenn es in Strömen regnen würde – das würde uns doch überhaupt nichts mehr ausmachen, so lange diese Quelle hier nicht versiegte.

Dann nahm allerdings eine kleine Katastrophe ihren Lauf, die damit begann, dass ich auf die Uhr schaute und feststellte, dass wir schon 30 Minuten überzogen hatten und es jetzt auch zu spät war, um nochmal schnell aufs Klo zu gehen. Punkt Neun sollte es die Ansprache geben oder was-weiß-ich-was. Wir zahlten eine geradezu lächerlich kleine Rechnung und liefen den ganzen Weg zurück zu den selbst gebauten Indianer-Tipis und ich weiß nicht mehr, wie die anderen es in ihren Zelten geschafft hatten, aber als ich in unserer Runde im Schlafsack lag und mir nach der Schelte des Betreuers die Ansagen anhörte, da musste ich doch ziemlich heftig pissen. Aber um mich nicht zu verraten und auch weil ich ja ohnehin viel zu spät zurück war, hielt ich es aus und als wir uns alle endlich Gute Nacht sagten, musste ich so dringend, dass ich nochmal raus musste. Ich entschuldigte mich drei Mal, stapfte über Schlafsäcke und Rucksäcke und zur Seite rollenden Körper und knotete das mit einer Art Schiffskordel zuvor mühsam zugeknöpfte Zelt wieder auf. Als ich endlich draußen war, lief ich zehn Schritte Richtung Kuhweide, damit man das Plätschern durch den Regen nicht mehr hören konnte und ließ es dann endlich laufen. Das tat gut, aber ich stand mitten im Nieselregen und hatte ein schlechtes Gewissen wegen des offenen Zelts, also beeilte ich mich und duckte schnell wieder ins Zelt zurück, zog die ganzen Kordeln wieder zusammen, was eine halbe Ewigkeit dauerte, während ich mit meinen Füßen im feuchten Gras stand. Noch während ich am Knoten war, spürte ich, dass noch nicht alles aus mir raus war. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken und kroch zurück in den Schlafsack. Es war rundum kalt und feucht und zuerst dachte ich, lass es nur ein bisschen warm werden, dann kann ich einpennen. Später würden die anderen auch schlafen und keiner würde es mitkriegen. Aber da ich ständig dran denken musste, wurde es immer dringender, bis ich rief: „Ey es tut mir leid, aber ich muss schon WIEDER pissen“. Ich hoffte dadurch auf etwas minder sozialen Druck, aber die anderen antworteten irgendwas Übles, so derart, dass sie mir sonstwas wünschen. Aber wenigstens wussten sie es jetzt.

Ich stand also ein zweites Mal auf, stolperte über alles Mögliche und trat zwei Mal auf herumliegende Beine, so dass es mir vor Schreck beinah schon im Zelt passiert wäre und knüpfte wieder diese endlos lange Leine auf, bis ich endlich draußen war. Dieses Mal machte ich mir nicht mehr die Mühe, weiter weg zu laufen, sondern schiffte gleich in den Graben vorm Tipi, was drinnen natürlich nicht unbemerkt blieb und mit allerlei ‚Hallo‘ und dummen Witzen begleitet wurde. Dieses Mal war ich mir sicher, dass die Blase leer war, aber da es immer weiter regnete, war ich auch endgültig vom Scheitel bis zur Sohle nass. Ich brauchte wieder eine halbe Ewigkeit bis ich nach all dem Geknote und Gewühle im Schlafsack war, zog mich aus und versuchte, mich mit dem Handtuch gründlich trocken zu rubbeln. Bis es dann endlich so weit war, dass es da drin wieder warm und ich schläfrig wurde, begann ein übles Martyrium, dass ich eine ganze Stunde vor mir hertrug, bis ich eine folgenschwere Entscheidung treffen musste. Auch das dritte Bier war nun endlich in der Blase angekommen. Ich zögerte es so lange raus, wie es nur ging und es war inzwischen tief in der Nacht, aber es musste einfach sein. Inzwischen schliefen alle rund um mich herum und ich überlegte noch, ob ich es nicht einfach im Zelt kommen lassen konnte. Es war schließlich überall feucht im Gras, aber dann dachte ich nach all dem Unmut zuvor daran, wie sie mich vollständig fertig machen würden, wenn das jemand mitkriegte. Und in meinen Schlafsack zu pissen, das kam nun wirklich nicht in Frage. Ich saß vorhin schließlich wie ein Profi auf dem Barhocker und soff Bier wie mein Alter und jetzt sollte ich ins Bett schiffen? Auf gar keinen Fall.

Ich öffnete den Reißverschluss so leise wie nur möglich und schön bis unten hin, damit ich geräuschlos da raus kam. Ich lauschte den Schlafgeräuschen rundum. Es funktionierte. Sie waren alle am pennen. Ich sah im Dunkeln den Weg bis zum Eingang rüber, dachte an das Stolpern und das Wachwerden und den Lärm, den es verursachen würde und an die ewig lange Zeit, bis diese verdammte Kordel wieder nachgab. Das war einfach kein guter Plan. Dann drehte ich mich auf den Bauch, schaute unterm Zeltrand nach draußen, versuchte die Machbarkeit abzuschätzen und traf eine vernünftige, erwachsene und unumkehrbare Entscheidung. Ich kroch wie eine Echse auf allen Vieren vorwärts, den Bauchnabel knapp über der Grasnarbe und schob meinen Kopf unter dem gespannten Zeltstoff durch, wobei ich ihn schon schräg halten musste, weil so wenig Platz war, dass ich das Gras schmecken konnte. Dann nahm ich die Arme nach vorn und zog mich in die Erde gekrallt Stück für Stück nach vorn, inzwischen mit dem ganzen Bauch im feuchten Modder kriechend und als ich es bis zur Hüfte geschafft hatte, drückte die Blase so heftig, dass ich es kaum noch halten konnte. Von innen aus gesehen lag nur noch mein Arsch, meine Blase und meine angewinkelten Beine im Zelt, mit denen ich versucht hatte, mich vollends drunter durch zu drücken. Ich stellte mir vor, wie jemand von drinnen die Polaroid drauf hielt, denn ich steckte fest und hatte keine Wahl, außer an Ort und Stelle einzuschlafen und es auf morgen zu verschieben, aber daran war nicht zu denken. Und so stemmte ich mich im Schlamm festkrallend mit aller Gewalt immer weiter unter dem Segeltuch durch und dachte, es wird schon irgendwie gutgehen.

Aber es ging nicht gut. Kaum hatte mich meinen Arsch im Freien, hörte ich einen der hölzernen Zeltstöcke krachen, der wiederum die anderen beiden mühelos mitnahm und das ganze, riesige Tipi brach binnen Sekunden zusammen wie ein Kartenhaus, während ich mich draußen nackt aufrichtete und endlich schiffen durfte. Es war ein wahnsinniges Chaos unter dem ganzen Stoff und den Stöcken und Schnüren und drinnen fluchten alle wild durcheinander, riefen wild Zeugs umher und keiner wusste so richtig, was los war. Ich befreite mich vom dritten Bier und als ich damit fertig war, zögerte ich keine Sekunde, warf mich zurück auf den Boden und rollte unter dem ganzen schlaffen Tuch wieder nach innen, was mir erstaunlich leicht gelang. Dann beteiligte ich mich alibi-mäßig an dem ganzen Gerufe und Geschreie und irgendwann hatten wir das Chaos wieder im Griff. Natürlich hatten sie mich auf dem Kieker, aber ich tat einfach genauso und warf abwechselnd zu den anderen die krudesten Theorien zum Einsturz in die Runde, bis sich endlich wieder alle beruhigten und wir das Zelt wieder halbwegs hinkriegten.

Das Beste an der ganzen Geschichte war schließlich, dass meine Pfadfinder-Freunde wegen der ganzen Aufregung nicht mehr einschlafen konnten, während ich endlich von allem Druck befreit und nach mehreren wachen Stunden, wie ein Murmeltier bis zum Vormittag durchschlief und als ich am Vormittag endlich wieder aufwachte, waren sie schon längst mit irgendwas beschäftigt. Kräuter sammeln wahrscheinlich. Als ich ich die ganzen Schnüre wieder auf hatte und an einen guten, schwarzen Kaffee dachte, regnete es immer noch vor sich hin und der Himmel zog sich gerade voller übler Regenwolken zu. Heute abend würden wir mit dem Biertrinken und dem Rauslassen ein paar strengere Regeln aufstellen müssen, dachte ich. Dann nahm ich mir die Schaufel und zog den Graben wieder ein Stück tiefer. Nur für alle Fälle.

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