Mein Leben als Detektiv (3)

Am krassesten waren die Einsätze bei Schlecker. Erinnert Ihr Euch an diese Läden? Von weitem sah so ein Schlecker aus, wie ein kleiner Aldi wegen der blauen und weißen Farbe, aber wenn man näher ran kam, dann merkte man um wie viel niedriger das Niveau war. Außen standen immer irgendwelche Metallkörbe rum, in denen Dinge lagen, die statt 99 Pfennige nur 89 Pfennige kosteten. Oder ein Restposten Quietsche-Enten. Drinnen gab es eine kleine, weiße Sperrholz-Zelle für die Kassiererin, in der man sich kaum umdrehen konnte. Ein Flugzeug-Klo war ungefähr doppelt so groß. Die Regale wurden nur ein Mal die Woche nachgefüllt und hatten den Charme eines Großhandels. Es gab auch faktisch nix, was irgendwie wertvoll war. 95% der Ware kostete unter drei Mark. Insofern war es echt verwunderlich, dass es überhaupt Diebe gab.

Wenn man sich die zeitgleich erfolgreichen Drogeriemärkte wie DM oder Rossmann ansah, in denen es freundliche Farben und viel Licht und Spiegel gab, in denen die Regale nicht wie in einem Lagerschuppen standen und in denen auch mal jemand da war, den man fragen konnte – wie konnte diese komische Handelskette überhaupt überleben? Schlecker nistete sich hauptsächlich in kleinen Dörfern und Gemeinden ein und war so der einzige Laden im Ort. Damit ersetzte die Drogerie die klassische Tante Emma und weil es da drin ganz schön viel Auswahl gab, liefen die Läden. Um ihre Gewinne zu steigern, drangsalierte Schlecker seine Angestellten so heftig, dass diese oft nicht mal ein Telefon hatten, um im Notfall jemanden anzurufen. Grundsätzlich waren Angestellte alles in einem: Lagerkraft, Sortiererin, Putzfrau, Kassiererin, Buchhalterin, eben Mädchen für alles. Und fünfundzwanzig Cent Unterschlagung beim Pfand kosteten einen den Job.

Es lief wie folgt: Ich bekam einen kurzfristigen Auftrag, in einen bestimmten Laden zu fahren, stellte mich beim Mädchen für alles kurz vor, wünschte uns eine gute Zusammenarbeit, und dann ging das los. Ich bekam einen Schlüssel für den Personalraum, der oft genug ein halbes Lager war und kam über diesen in eine Art Beobachtungsgang. An den Wänden innerhalb der Filialen verlief entlang des Ladens immer eine weiß lackierte Metallwand, in der kleine Löcher waren, um darrin was aufzuhängen. Und hinter dieser Wand, die rund um den Laden lief, war ein kleiner und schmaler dunkler Gang, aus dem heraus man die Kunden durch die ganzen kleinen Löcher beobachten konnte. Ich sah live zu, was sie einpackten und was sie dann an der Kasse wieder auspackten. Aber die Leute im Laden sahen nichts, weil sie auf dunkle Löcher starrten. Und Kameras, die sie hätten warnen können, gab es nicht. Das war Schlecker zu teuer. Es war also nicht nur so, dass dieser ganze Job eine einzige beschissene Angelegenheit war, es war auch noch so, dass ich beim miesesten Arbeitgeber von allen mit den übelsten Methoden die Kunden überwachte. Es war wirklich kein Job zum drauf stolz sein. Ich meine, ich hätte vieles in meinem Leben gerne richtig gut gekonnt. Halt irgendwas wo die Leute richtig gerne hinsehen. Quetschkommode spielen zum Beispiel. Oder Bodenturnen.

An manchen Tagen war ich so müde, dass ich ein Schläfchen auf einem Stuhl hinter der Lochwand hielt, indem ich mich im Gang festklemmte, damit ich nicht umfiel. Aber dann fing ich an zu schnarchen und man hörte es von draußen. Das war natürlich schon peinlich, aber solang man einen fing, war es okay. Manchmal sah ich mir die Menschen ganz genau an, besonders die jungen Damen. Ich wunderte mich, warum es keine merkte. Ich war dreißig Zentimeter von ihrem BH entfernt. Ein einziges Mal hatte ich das Gefühl, dass mich eine wahrnahm, aber sie hielt es wahrscheinlich selbst für so undenkbar, dass sie kein großes Gewese draus machte. Einfacher war das Fangen nirgendwo anders. Wenn ich einen erwischt hatte, ließ ich es ruhig angehen und schlief noch ein bisschen im Lager oder hinter der Lochwand. Aber eines Tages schickten sie mich zu einer belebteren Filiale in der Stadt. Und ich war ausgeschlafen und wach an diesem Tag.

Es begann damit, dass ich mich hinter der Lochwand bei den Cremes positionierte. Das war bei Schlecker immer ein guter Standort. Kosmetik war in der Drogerie mit das Kleinste und Wertvollste, was man so mitgehen lassen konnte. So wie die Stichsägeblätter im Baumarkt. Gleich die erste Kandidatin war ein Treffer. Sie nahm eine Creme aus dem Regal, legte sie behutsam in ihre Tasche – und begann erst dann alles zu sichten und zu testen. Sozusagen als Nervennahrung. Dann nahm sie sich noch einen Weichspüler und ein paar Damenbinden aus dem Regal und tapperte damit zur Kasse. Als ich dazu kam, versuchte sie erst gar nicht, es abzustreiten. Die nächste Kandidatin hatte einen Kinderwagen dabei und ließ alles, was sie einkaufte, da reinfallen. Ich versuchte noch, wie damals am laufenden Band bei Rudi Carell, mir die ganzen Sachen zu merken. Aber schon anhand der reinen Stückzahl auf dem Kassenband stimmte was nicht. Schien ja ein erfolgreicher Tag zu werden.

Dann kam eine in Hotpants und zerrissener Bluse. Die Beine sahen zerschunden aus, voller Pickel und Schürfwunden. Ihre Hände waren aufgekratzt, ihre Sandalen lösten sich auf und ihr Gesichtsausdruck war leer und gleichgültig. Aber sie hatte einen schönen Gang drauf und ich sah ihr zu, wie sie ihren Arsch in Richtung der Kosmetik schlingerte. Ein Junkie, keine Frage. Und mit genau dieser gelangweilten Attitüde, als sei es das Selbstverständlichste, öffnete sie ihre Handtasche, griff nach den Lippenstiften und kehrte die gesamte Musterkollektion sämtlicher Marken und Farben zusammen. Es waren so um die 40 Lippenstifte. Dann klappte sie die Tasche wieder zu und wandelte zurück zum Eingang. Ich kam kaum hinterher und erst an der Kreuzung vor dem Laden sprach ich sie an. Ich rechnete überhaupt nicht mehr damit, aber sie drehte sich um und kam ohne Widerstand mit mir zurück in den Laden, wo die Kassiererin die Augen verdrehte. Drei Fänge innerhalb der ersten Stunde. Ich verzog mich mit der Braut ins Lager, sie öffnete ihre Handtasche und kippte den ganzen Inhalt auf den Tisch. Ein riesiger Berg aller möglichen Dinge lag vor uns. „Hast Du nen Ausweis?“ fragte ich. Sie kramte in den ganzen Lippenstiften rum und zeigte mir ihre Karte. „Hast du ne Kippe?“ fragte sie. Ich tastete in meinen Hosentaschen, fand welche und gab sie ihr. Dann setzten wir uns, rauchten und erledigten den Schriftkram. „Magst Du deinen Job?“ fragte sie. „Und Du deinen?“ fragte ich. „Willst du es rausfinden?“, fragte sie. Ich sah auf mein Gekritzel und antwortete nicht. Das war alles, was wir redeten. Sie sah mir beim Schreiben zu, rauchte auf und kehrte den Rest ihrer Sachen wieder zusammen. Ich sah ihrem Arsch nach, wie er wieder auf die Straße schlingerte. Zeit für einen Kaffee!

Ich nahm mir einen zum Mitnehmen von der Bäckerei nebenan und als ich den Laden wieder betrat, sah ich gerade noch, wie sich eine Schülergruppe vor den Coladosen breitmachte. Ich drehte eine Ehrenrunde durch die Regale und als sie sich zu fünft mit einer einzigen Coladose an der Kasse stauten, sagte ich meinen Spruch auf. Das waren jetzt schon vier Fänge. Die Kassiererin gab sich entsetzt, gerade so, als ob sie nie und nimmer damit rechnete, dass bei ihr überhaupt jemand was klauen würde. Ich mag keine naiven Menschen. Es gibt einfach nichts, was noch weniger attraktiv ist, als Menschen, die keinen Durchblick haben. Über den Tag verteilt kamen dann noch mal vier Fänge dazu. Alle kinderleicht, als ob sie in einem Drehbuch standen. Ich schraubte den Score auf Acht, was nicht nur einen persönlichen Rekord darstellte, sondern auch den bisherigen Rekord dieses Schleckers, der bisher bei Sechs lag. Aber dann kam der letzte und neunte Fall des Tages und wie auf der Bühne; es war der absolute Knaller zum Schluss. Sie war weit jenseits der 80, vielleicht sogar 90 und man sah ihr die Berufung an. Schwarzer Umhang bis runter zu den Knöcheln, ein schwarzes Kopftuch, darunter ein weißes Häubchen, weißen Kragen, eine dicke Goldkette mit einem goldenen Kreuz dran und diese seltsamen Latschen, die es nirgendwo zu kaufen gab. Diese Nonne war schon aufgrund ihres Alters so auffällig, dass ich einfach hinsehen musste und ich dachte noch, „Hey, Du wirst hier ganz bestimmt nichts klauen“. Sie zog eine Einkaufstasche aus ihrer Kutte, faltete sie auf, nahm ein riesiges Zwei-Kilo-Vorrats-Paket an Hefetabletten aus dem Regal und stopfte es in die Tasche. Sie brauchte dazu ziemlich lange, weil die Tasche zu klein und das Paket ziemlich schwer war. Dann drehte sich um und ging raus wie sie gekommen war. In Zeitlupe. Sie reihte sich vor dem Laden in die wartende Schlange an der Fußgängerampel ein. Ich konnte das gar nicht fassen. DAS musste ich mir einfach ansehen.

Also ging ich mal wieder durch den Gang und über die Kammer, dann an den Regalen entlang raus auf die Straße und sprach sie an. Zunächst tat sie wie Tulpe und wusste nicht, wovon ich sprach. Ich deutete auf die Tasche und sagte: „Das hier haben Sie nicht bezahlt – kommen Sie einfach wieder mit mir rein, okay?“. Sie fing augenblicklich zu weinen an, wie auf Kommando, und ich versuchte sie mit allerlei sanften Tönen in den Laden zu bewegen. Sie kam dann tatsächlich mit und die Kassiererin sah uns an, hob die Hand vor den Mund und riss die Augen so erschrocken auf, als ob sie im nächsten Moment einen Tsunami erwartete. Wir gingen ins Lager, setzten uns und ich erklärte ihr das Procedere. Es gäbe vier Zettel hier, auf denen ich ihren Namen notieren muss, sagte ich. Einer davon sei für den Laden selbst, einer für die Detektei, einer fürs Hausverbot und der letzte hier für die Polizei. Kaum hörte sie das Wort Polizei, fing sie wieder bitterlich zu weinen an und schluchzte, was das Zeugs hielt. „Okay“, sagte ich ritterlich, „schauen Sie her: ich zerreiße den Durchschlag für die Polizei und werfe ihn hier in den Papierkorb – aber bitte hören Sie auf zu weinen!“. Und unter allerlei Tränen, Entschuldigungen, falschen Namensangaben und verzweifelten Gesten, erledigte ich den Rest vom Schriftkram. Aber immer, wenn die Rede auf die Anzeige oder die Polizei kam, fing sie wieder an zu heulen. Es dauerte ewig. Ich konzentrierte mich aufs Schreiben und dachte immer nur: Feierabend, lass es Feierabend werden und irgendwie brachten wir es rum. Das Mädchen für alles hatte den Laden längst schon geschlossen und musste ihn wieder aufschließen, damit dieser Tag ein Ende fand. Das hier war wirklich kein Job für mich. Sobald die Prämien für den Monat bei mir waren, machte ich dann auch Schluss damit. Klar, ich brauchte das Geld und wenn es nicht passiert wäre, hätte ich jetzt auch nichts davon zu erzählen, aber ich glaube, man kann auch ganz nett vom Bodenturnen erzählen. Zum Beispiel von eleganten Überschlägen, Rollen und einem Flic-Flac oder so. Was kostet eigentlich so ’ne Quetschkommode?
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