Ich könnte es mir einfach machen: Ich erzähle Euch einfach, als ich mein erstes Fußballspiel in der Glotze sah. Und es war eine Glotze, die ihren Namen verdient. Eine fette, alte, riesige schwarz-weiß Röhrenglotze. Sie stand auf unserem Wohnzimmerschrank ganz oben in der Ecke und sie brauchte etwa acht Minuten, bis Bild und Ton verfügbar waren. Man schaltete sie unten rechts an und wartete eine Ewigkeit, die einem damals gar nicht ewig war…. doch das ist eine andere Geschichte. Die Geschichte, die ich Euch heute stattdessen erzähle, ereignete sich im Sommer 1987. Ich war 22. Ich war verliebt. Ich stand voll im Saft und war gut in Fahrt.
In der Nacht zuvor hatte ich mit einem Lucky Punch aus meinem fürs Wochenende verbliebenen 5er mit nur einem Deal 100 Mark in der Spielbank gemacht und beschloss am Nachmittag nach dem Aufwachen – es war ein Freitag – das erste Mal im Leben ein Bundesligaspiel live zu sehen. Einmal im Olympiastadion die Bayern und dafür 400 km nach München zu fahren, schien mir verrückt genug und so lud ich mir eine Proviantkiste Gerstensaft in den riesigen Kofferraum des Kadetts und startete in der Nacht zum Samstag um halb vier, weil ich einfach einer der ersten dort sein wollte und nicht wusste, wie das mit den Karten läuft.
Unterwegs traf ich ein paar 1860er Fans an der Raststätte, die warum auch immer, sich morgens um 8 eine beachtliche Menge an Weizenbier zuführten, und ich freundete mich kurzerhand mit Ihnen an, fuhr sie nach Hause und kassierte dafür beste Wünsche für das Spiel am Nachmittag. Es war das zweite Spiel der Saison 87/88 und es ging gegen den HSV. Ich war morgens gegen halb zehn am Stadion, fand einen Parkplatz keine 100 m vorm Einlass und erwartete ungeduldig die Öffnung der Kassenhäuschen um elf.
Auf dem Parkplatz standen Autos aus Uerdingen, Kiel, Hannover und Kassel und ich ordnete sie den Hamburgern zu, doch nach dem Frühschoppen war die Lage geklärt. Keine HSV-Fans. Bayern-Freaks! Sie fuhren jedes einzelne Wochenende sogar bis aus Kiel hierher, um Bayern zuhause spielen zu sehen. Die Kennzeichen hatten nichts mit dem Bayerngegner des Spieltags zu tun, die waren einfach immer hier. Für mich öffneten sich ganz fremde Welten. Ich hatte mich für verrückt genug eingestuft, aus Saarbrücken hierher zu fahren, aber die hier machten locker die dreifache Strecke.
Als die Kasse öffnete, war ich einer der ersten am Start. Ich sagte sowas wie: "Bayernkurve wäre fantastisch" und die Kassenfrau schob mir eine Karte zu acht Mark über den Tresen. Acht Mark! Bei uns im Ludwigspark kostete die Stehplatzkarte zu dieser Zeit bereits 12 Mark! (Und das war zweite Liga). Ich kassierte die Karte wie jemand, der gerade einen Gewinn einstrich, trank mich mit den Jungs bis zum Nachmittag warm und wir füllten die Südkurve so gegen eins. Eine weise Entscheidung, denn man fand so einen gesunden Rhythmus zwischen Bier und Klo, bis um halb vier die Gladiatoren mit dem Schauspiel begannen. Wie immer das Spiel ausgehen würde, ich hatte bereits genug Material für diese Story, die Du gerade liest.
Das Spiel ließ sich gut an und Lodda hämmerte nach 25 Minuten einen Strich unter die Latte und noch vor der Pause erhöhte "Cobra" Wegmann auf 2:0. Dieser Ausflug würde sich also lohnen, so viel war schon jetzt klar. Ich mache es kurz: Die Bayern fegten den HSV mit 6:0 vom Platz und nach jedem einzelnen Tor war natürlich Party in der Kurve. Kaum hatte man sich nach 'nem Tor wieder sortiert, fiel schon das nächste. Es war Sommer, es war warm, ich strotzte nur so vor Kraft und Lebensfreude, es war mein erstes Bundesligaspiel, ich stand mitten unter den singenden Fans, fand Freunde, es gab sechs Treffer zu Null – und ich war stramm besoffen. Was konnte das noch toppen?
Die Jungs aus Uerdingen machten den Anfang. "Wir gehen zu Gerd auf die Presse, komm mit!" riefen die drei kurz nach Spielschluss und ich folgte ihnen, ohne zu wissen, was mich erwartet. Wir liefen wie endlos durch freudentaumelnde Rot-Weiße, gingen an Ordnern und Offiziellen vorbei, ohne dass uns auch nur einer aufhielt. Auf der Pressetribüne standen lange Tische, an denen Reporter mit riesigen Kopfhörern vor sich hin brabbelten. Jeder für seinen Sender, jeder mit seinem Text. Die Jungs aus Uerdingen wiesen mir 'nen Hocker zu und ich betrachtete das Spielfeld von hier oben, zentral auf das majestätische Rund, dass sich soeben vom Hamburger Waterloo zurückverwandelte, als schon die Greenkeeper den Rasen stopften und die letzten Fernsehinterviews starteten. Am Spielfeldrand standen Hoeneß und Heynckes und gaben Interviews – ich konnte sie prima sehen, wenn ich auch Mühe hatte, die Pupillen scharf zu stellen.
Direkt neben mir saß Gerd Rubenbauer, das Urgestein des bayrischen Rundfunks und wies mir mit einer lockeren Geste den Kopfhörer zu, der neben ihm lag. Jetzt war eh schon alles selbstverständlich und ich stülpte mir die Dinger über und hörte live den Kommentar aus der ARD-Radiokonferenz zur Zusammenfassung des Spieltags. Eine Stimme sagte: "… und nun zu Gerd Rubenbauer, der uns das Spiel der Bayern zusammenfasst", und ich sage Euch, Ihr Lieben, ich hörte links von mir den Reporter live und im Kopfhörer seine Stimme, die von seinem Mikro in den Äther und von dort aus zurück auf meine Ohrmuscheln funkte. Ich akzeptierte all das mit einer inzwischen selbstverständlich gewordenen Lässigkeit, denn seit einer halben Stunde war eh schon alles Zugabe und als Rubenbauer seine Sachen einpackte, war es dann auch keine allzu große Sensation mehr, als wir in seinem Fahrwasser durch die VIP-Bereiche folgten, kurz nachdem er verkündet hatte: "Und nun ab ins Bayernstüberl".
Ich versuchte, eine möglichst ernsthafte Miene aufzusetzen, weil ich ahnte, dass jetzt noch jemand versucht, uns auf der Schlagsahne mit Eierlikör zu ersäufen, aber es misslang mir kläglich, weil ich kaum noch geradeaus laufen konnte. Ich konzentrierte mich auf die Hacken von Gerd und folgte ihnen direkt an die Theke, wo ich dem Mann am Zapfhahn noch überzeugend signalisierte, für Freibier durchaus noch Platz zu erübrigen, wenn es sein musste. Als in der Glotze der VIP-Kneipe um halb sieben die Sportschau begann, trafen sie ein, geduscht und geföhnt, bestens gelaunt und bereit, ihre Gala zu feiern: Augenthaler war der erste, den ich erkannte, dann Jean-Marie Pfaff, den Torhüter, dann kamen Lodda, Nachtweih, Pflügler, Brehme und kurz vor acht schaute auch Hoeneß vorbei – nur Heynckes in seiner ersten Bayern-Trainer-Zeit entdeckte ich nicht. Jean-Maries Frau fuhr mit einem Landrover auf die Rampe vor der Kneipe und fing an zu hupen und Lodda riss darüber ein paar Witze, die gar nicht so übel waren. Ich blieb noch bis kurz vor neun im regelmäßigen Pendel zwischen Pissoir und Theke, bis Lodda sich als Letzter verabschiedete. Ich nickte ihm zum Abschied für seinen Hammer zum 1:0 anerkennend zu und verließ die Arena in seliger Zufriedenheit.
Seitdem bin ich durch drei Jahrzehnte Fußballeidenschaft gegangen und musste mich immer wieder erklären, warum ich ausgerechnet die Bayern mag. Vom Fan-Sein bin ich weit entfernt. Auch wenn die Roten jahrelang nichts gewannen, bin ich nicht vor Unglück eingegangen. Aber vielleicht versteht Ihr mich ja wenn ich Euch sage: Ein bisschen was von diesem Tag steckt in jedem einzelnen Bayernsieg, den ich sehe.
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