Die Tage und Wochen flogen nur so dahin. Paul und ich hatten uns von den Bergen Tetouans aus nach Süden bewegt, lebten eine Weile in Fés und Marakesh und fuhren mit den Überlandbussen über Méknes weiter in Richtung Wüste. Das Busfahren verlief eigentlich immer gleich. Man fragte sich im Ort durch, wo die Tickets verkauft wurden und der Verkäufer nannte uns die Abfahrtszeit, meist war es früh um Acht. Tatsächlich stand der Bus am nächsten Morgen neben den anderen in der Reihe und vor jedem Bus rief irgendwer lautstark das Fahrtziel aus, was dazu führte, dass man keinen richtig verstand, weil jeder den anderen im Ausrufen übertreffen wollte. Wir suchten uns im Bus einen Platz aus und stellten dann fest, dass das ganze Beladen erst richtig losging. Oft standen wir noch um Neun an Ort und Stelle, weil immer mehr in den Bus geladen wurde. Unsere Rucksäcke waren dann immer schon tief im Bauch des Busses, wenn bereits alles rappelvoll war und das Dach beladen wurde. Ganz zum Schluss zerrten sie noch irgendwelches Viehzeugs mit Gurtbändern an der Reling des Daches fest und dann konnte es endlich losgehen. Uns war das egal, es gab immer was zu entdecken oder jemanden kennenzulernen, was zu erzählen, zu fotografieren oder was zu rauchen.
Méknes war eine der fünf Königsstädte und ich erinnere mich dort am eindrucksvollsten an einen einsamen und magischen Moment, als ich eines Abends auf dem flachen Dach des Hotels stand, in der fünften oder sechsten Etage und meinen Blick über die Stadt schweifen ließ. Es war vielleicht sieben oder acht Uhr abends, aber es war immer noch sehr warm und ich genoss dieses gleichmäßige Wärme des Sonnenlichts auf der Haut. Wir gewöhnten uns ohnehin an die tägliche Hitze und lernten, damit umzugehen. Mehrere Flaschen des guten Sidi Harazim Wassers verschwanden während des Tages irgendwo im Körper, ohne dass ich wirklich wusste, wohin. Jedenfalls kam nichts davon wieder raus. An diesem Abend war es angenehm und trocken heiß und ich sah mir die sechs Minarette rundum an, als einer der Muezzine damit begann, zum Abendgebet zu rufen. Dann stimmte der vom zweiten Turm mit ein und beide riefen das Gleiche in einer Sprache, die ich nicht verstand, aber es klang sehr schön, so zwei oder drei Sekunden zeitversetzt. Dann begann auch der Dritte und der Vierte und schließlich auch die beiden von den Türmen Fünf und Sechs. Abgesehen davon, dass aus jeder Himmelsrichtung Chorstimmen zu mir flogen, mischten sich die sechs Stimmen zu einem Kanon, der zeitlich genau aufeinander abgestimmt war. Ich erinnerte mich an meine Schulzeit, als wir Lieder im Kanon sangen und auch daran, wie schwer es war, in genau dem gleichen Abstand zueinander in die Melodie so einzusteigen, dass alle Stimmen miteinander eine Harmonie ergaben, aber wenn wir es schafften, dann sang ich mit und hörte gleichzeitig zu, wie schön das klang. Und jetzt stand ich auf diesem Dach und lauschte sechs verschiedenen Stimmen aus sechs verschiedenen Richtungen, die alle den gleichen Kanon sangen. Keine Ahnung, um was es in den Texten ging, aber es war der Ruf zum Abendgebet und so klang es auch: Fordernd, würdevoll, erhaben und die Stimmen klangen nach, hallten über die Dächer der Stadt, verloren sich zum Schluss eine nach der anderen in einem musikalischen Echo. Ich hatte das Gefühl, Zeuge eines ganz besonderen und einzigartigen Moments gewesen zu sein, obwohl sich das Hörspiel drei Mal am Tag wiederholte, aber es war der richtige Ort zur richtigen Zeit und wenn ich heute dran zurückdenke, dann vor allem an die Magie des Moments, die der Chor auslöste. Okay, es könnte auch was mit dem wirklich fantastischen Klima und dem Glas Jack Daniels in meiner Hand zu tun gehabt haben, aber es beeindruckte mich so sehr, dass ich dem Moment heute noch nachfühlen kann.
Einige Tage später ließen wir uns samt einigen Hühnern auf dem Bus-Dach nach Azilal kutschieren. Von hier aus waren es nur noch zehn Autobus-Stunden bis zum Rand der Sahara, die wir unbedingt sehen wollten. Wir hätten uns nie und nimmer in die Wüste getraut, aber sie zu sehen und zu begreifen, wie unendlich groß sie vor einem liegt, das wollten wir unbedingt. Wie sich herausstellte, hatte Azilal nichts zu bieten, bis auf eine völlig unerwartete, geradezu absurd moderne Apotheke mit einer hervorragend funktionierenden Klimaanlage. Wenn ich das heute so schreibe, kann ich nicht annähernd beschreiben, wie komisch uns diese Apotheke in einem Dorf erschien, das außer einigen staubigen und nicht asphaltierten Straßen nichts zu bieten hatte. Wir waren wegen der nahegelegenen Wasserfälle hier, aber außer Sand und Dreck und Steine gab es hier einfach nichts. Nichts – und diesen hypermodernen Flach-Bau mit sich selbständig öffnenden Türen, sauber gefliestem und strahlend weißem Boden, einer modernen Theke und einer Klima-Anlage, die es schaffte, einen von 45 auf 18 Grad binnen einer Minute runterzukühlen. Eben noch hatten wir uns in verschwitzten Achselshirts über die staubige Straße geschleppt und standen jetzt frierend in der Apotheke, das war wie eine Strandbar in der Wüste finden. Und sie war gut sortiert, auch wenn sie nicht alles da hatten. Genau genommen fragten wir nur nach einer Sache. Paul war am Vorabend auf dem Rückweg vom Restaurant in einer der zahlreichen Gassen einem ziemlich merkwürdigen, großen Käfer begegnet und war gerade dabei, ihn mit seiner Barfuß-Sandale beherzt anzukicken, als uns jemand zuvorkam und das Tier einfach platt trat. Dann erst entdeckten wir, dass der große Käfer einen nach oben gekrümmten Schwanz hinter sich herzog. Ich weiß bis heute nicht, ob wir einfach nur riesiges Glück hatten oder der Skorpion ohnehin nicht giftig war, aber an diesem Abend suchten wir das Zimmer gründlich nach größeren Käfern ab. Schon am nächsten Tag konnten wir die Salbe gegen ernst zu nehmende Vergiftungen in der modernsten Apotheke Marokkos abholen. Viel würde das nicht helfen, aber weil wir noch weiter Richtung Wüste wollten, orderten wir sie trotzdem. Außerdem war die Apotheke die einzige Sehenswürdigkeit des Orts, die wir unbedingt nochmal sehen wollten.
Nach den Wasserfällen bestiegen wir einen Bus mit zwei festgeschnallten Schafen und kurvten damit über die einsamen Pass-Straßen des Atlas nach Ouazarzate, die letzte nennenswert große Ansiedlung vor den kleineren Wüstendörfern, deren Straßen geradewegs zum Rand der Sahara führten. Auch dort gab es bis auf zwei außerhalb gelegenen Kasbahs nicht viel zu sehen, aber die Stadt war ringsum mit einer monumental großen Mauer umzogen, auf der man sie einmal umrunden konnte, was ziemlich gute Bilder auf das Atlas-Gebirge im Norden hergab. Schließlich nahm uns jemand bis zum Wadi Draa mit, dem letzten Gewässer oder vielmehr dem letzten ausgetrockneten Flussbett am Rand der Wüste. Ich hatte mir Oasen immer mit reichlich Wasser, Palmen und Grün vorgestellt, aber das Wüstendorf bot nur noch Staub und Sand, Stein und Hitze. Es gab auch keine Autos mehr, nur ab und an jemanden im weißen Kaftan, der einen Esel hinter sich herzog. Dann liefen wir bis zum Rand des Dorfs und ließen dieses Bild einer bis zum Horizont schier unendlichen Wüste auf uns wirken. Es war was wir erwartet hatten, aber es war nicht halb so spannend, wie wir dachten. Jede Menge Sand. Unendlich viel. Und Wind, der den Sand in Wellen kämmte. Umherfliegender Staub. Flimmern am Horizont. Ich weiß noch, dass mir „Sex in der Wüste“ von Ideal durch den Kopf ging, aber ich hatte nicht mal ne Cola, die hätte kochen können und umherliegende Weiber im eigenen Schweiß gab es hier auch nicht. Aber – wir waren dort! Dann drehten wir um. Wir hatten jetzt alles gesehen, was wir auf unserer Nord-Süd-Strecke entdecken wollten. Es war nun an der Zeit, sich dem Meer zuzuwenden und so kauften wir uns Tickets von Ouazazarte nach Agadir, um am frühen Morgen in einen weiteren Reisebus zu steigen, wo sie gerade versuchten, eine ziemlich störrische Ziege nach oben zu zerren.
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