Aus den marokkanischen Tagebüchern, Teil 2. Eine Geschichte ohne Anfang – und ohne Ende.
Drei Wochen in Fès. Keine andere marokkanische Stadt faszinierte mich derart. Ich war selten in der äußeren Altstadt oder der ‚Ville nouvelle‘, vielleicht an drei oder vier Tagen. Den Rest verbrachte ich in der inneren Altstadt – der Medina. Wenn man durch eines der Tore in der Stadtmauer ging und drin war, kam man einfach nur schwer wieder raus. Das lag zum einen daran, dass es ständig was Neues im Labyrinth der Souks zu entdecken gab, zum anderen daran, dass man nur schwer wieder raus fand. Es war schon nüchtern schwer genug, sich in den engen und verwinkelten Gassen zurecht zu finden. Aber nach acht oder zehn Stunden Abenteuern noch den Überblick zu behalten, war nahezu unmöglich.
Das Wichtigste, was ich über die Geographie von Fès lernte, war: Wenn Du hier wieder raus willst, dann lauf den Berg hoch! Die gesamte Altstadt liegt in einem Talkessel. Oben ist irgendwo die Mauer, die drum rum führt. Wenn es gar nicht mehr weiter ging, lief ich nach oben bis zur Mauer und dann drum herum bis zum richtigen Tor – so fand ich an mindestens der Hälfte aller Tage das Hotel wieder. An der Decke des Zimmers hing eine nackte Glühbirne, um die herum provisorisch ein Stück rotes Plastik gewickelt war, damit es nach Lampenschirm aussah. Immerhin gab es eine echte Matratze, auch wenn sie aus Schaumstoff war. Auf dem Flur war für alle zehn Zimmer eines dieser Stehklos, wie sie in Frankreich noch weit verbreitet waren. Hier waren sie Standard. Das Besondere daran war, dass es gleichzeitig die Dusche darstellte. Man musste halt an der richtigen Kette ziehen, wenn man mit runtergelassener Hose überm Loch hockte. Die Nacht machte so um die drei Mark.
Jeden Tag, wenn ich das Hotel verließ und mich auf die Suche nach neuen Entdeckungen begab, schaute ich beim Imbiss um die Ecke vorbei. Es war faszinierend. Jeden Tag der gleiche Grill, der gleiche Typ, das gleiche Gerufe und doch immer was Anderes auf dem Rost. An einem Tag gab es Mais, an einem anderen Brot, in das er Harissa, Eier und Salat quetschte, am nächsten Tag Würstchen mit Tomaten und dann wieder anderes Gemüse mit Käse und manchmal alles zusammen. „Quelle gourmandise vous recommandez aujourd’hui?“ fragte ich ihn jeden Tag… und er erklärte mir, was er auf dem Grill hatte. Ich bestellte eine Portion, ganz egal was es gab, dazu einen frischen und kräftigen Kaffee vom Gaskocher und machte mich drüber her, indem ich mich auf eine der Treppenstufen setzte und mir das Gewusel um mich rum ansah. Dann betrat ich das Labyrinth, indem ich mich einfach bergab treiben ließ.
Nach und nach lernte ich einiges an Handwerk kennen. Abdou, der mit Samt, Brokat und Seide ziemlich aufwändig verzierte Kissen herstellte, philosophierte gern über Gott und die Welt und dazu gab es stets einen frischen Pfefferminztee und wenn ich mich nicht vorsah, stopfte Abdou einen ganzen Zuckerkegel rein. Irgendwie waren sie alle auf Zucker hier. Im gleichen Handwerkerhof war außerdem ein Hufschmied, dem ich gern bei der Arbeit zusah, während mir Abdou seine Theorien verkaufte. Eines Tages kaufte ich mir beim Schmuckhändler einen Silberring, nachdem er mich zum dritten Mal in seinen Laden einlud, weil ich ihn einfach kaufen musste – ich kriegte ihn nach dem Anprobieren nicht mehr vom Ringfinger runter. Mit Nougat und Gewürzen war ich für die kommenden zehn Jahre ohnehin eingedeckt.
Dann lernte ich Omar kennen, indem er mich einfach von der Gasse aus in seine Stube winkte und zwar ohne jeden Anlass. In seinem Zimmer, das gleichzeitig Küche, Schlaf- und Wohnraum war, dominierte ein großer, offener und brennender Kamin mit zwei Sesseln davor, in die wir uns setzten. Er sprach kein Wort französisch und ich kein Wort arabisch, aber er hatte einen riesigen Sack voller Gras vor sich. Ab und an stopfte er den Tonkopf seiner langen Holzpfeife damit und reichte sie zu mir rüber und wir saßen schweigend in unseren Sesseln und rauchten, während wir dem Feuer zusahen. Er verkaufte das Feuer, vor dem er saß. Das war sein Job im Kiez. Dazu legte er immer mal wieder frische Holzscheide rein, gruppierte sie um und wenn genug davon glühten und am Durchbrennen waren, füllte er einen der Eisenkörbe damit und brachte ihn weg. Es wurde ein langer, interessanter und lehrreicher Nachmittag, obwohl wir uns mit kaum einem Wort verständigen konnten. Aber ich besuchte ihn noch häufiger und brachte ihm allerlei Dinge mit, die ich anderswo erstand.
Eines Tages sprach mich ein alter und sehr ärmlich aussehender Mann an und fragte mich, ob ich Deutsch spreche. Dann zeigte er mir ein Buch, das er auf der Straße gefunden hatte. Es war ein Lehrbuch für Deutsch in der dritten Schulklasse. Und er wollte es lernen, denn er hatte ohnehin nichts Anderes vor. Wir setzten uns in eines der Cafés und ich wurde zu seinem Deutschlehrer, indem ich ihm Satzaufgaben stellte, die er löste und die ich wiederum korrigierte. „Morgen habe ich Geburtstag“. „Wer hat morgen Geburtstag?“ „Ich habe morgen Geburtstag“ „Wann hast Du Geburtstag?“ undsoweiter. Als wir oft genug Geburtstag hatten, gingen wir zur nächsten Lektion. Ich zahlte ihm immer den Tee und den Kaffee, wenn wir uns trafen und er freute sich jedes Mal, als ob er Geburtstag hätte.
Ich lernte noch viele Menschen in dieser faszinierenden Stadt kennen. Alle waren sie freundlich, luden mich ein, wollten mit mir plaudern und waren daran interessiert, woher ich komme und was ich hier mache. Jedes Mal, wenn ich ihnen klar machte, dass ich wegen ihnen hier war, freuten sie sich, was zu noch mehr Plauderei, Einladungen und Freunden führte. Fès, eine Stadt mit hundert Sehenswürdigkeiten, mittelalterlicher Struktur und so ursprünglich, wie eine orientalische Stadt nur sein kann, mitsamt ihren geographischen Besonderheiten und faszinierenden Bewohnern, war eine Offenbarung. Und sie wurde nur dadurch möglich, dass ich in sie eintauchte, nahezu unendlich viel Zeit dazu hatte und mich auf alles einließ, was mir begegnete. Ich war nicht mal fünfundzwanzig und ging fest davon aus, dass dies mein ganzes Leben lang so weitergehen würde.
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Tolerant, weltoffen und mutig, so kann man die Welt erkunden und Abenteuer erleben.