Komisch, das

Bisweilen begegnen einem Menschen, die man nicht einordnen kann. Sie tun wundersame Dinge oder sagen etwas sehr Unerwartetes. Wenn es Dir passiert, versuchst Du einen Zusammenhang herzustellen, mit etwas, was Du vorher mal gesehen oder gehört hast, aber es gibt einfach Momente, die völlig zusammenhanglos sind. Wenn es an fremden Orten geschieht, ist die Verwirrung umso größer, weil Dir der Kontext fehlt und selbst wenn Du ihn kennen würdest, bleibt ein Gefühl der Ratlosigkeit. Es ist, als ob irgendwer eine versteckte Kamera auf Dich richtet und abwartet, wie du reagierst.

Wien. Als ich das Hotel verließ, war ich in Gedanken immer noch beim Inhalt meiner Taschen und der geplanten Route. Dann bog ich um die nächste Ecke, wo mir zwei sehr junge Japanerinnen, sie sahen aus wie vierzehn oder so, entgegen kamen und zielstrebig auf mich zuhielten, wobei eine die Arme ausbreitete, als ob sie den Gehweg absperren wollte, während die andere mich verzweifelt mit großen, weit geöffneten Augen ansah und mit einer unfassbar piepsig hellen Stimme laut „Sissi! Sissi!“ anflehte. Ich blieb stehen und sah mich um. Niemand sonst zu sehen. „Sissi! Sissi!“ rief sie wieder. Ich zuckte die Schultern. „Franz“, sagte ich, „Franz“. Das schien sie zu beruhigen und sie ließen mich weiterziehen.

Avignon. Der Zug nach Marseille stand schon auf dem Gleis, es war nur noch eine Minute bis zur Abfahrt. Auf jeden Fall war es zu spät, um sich für ein Ticket anzustellen. Als ich auf dem Gleis ankam, blieb mir nur noch, die erste, greifbare Tür aufzureißen und ich schaffte es so eben noch, reinzuspringen. Genauer gesagt, fiel ich rein, denn der Zug ruckte wie wild beim Anfahren. Ich richtete mich wieder auf, klopfte den Dreck von meinen Kleidern und entdeckte zuallererst den Schaffner. Er stand direkt vor mir. Er wartete, bis ich mich soweit geordnet und gefasst hatte, dass ich Puls und Atem runterbrachte. „Na, da sind Sie ja doch nicht ausgestiegen und fahren noch weiter mit uns. Das freut mich! Ihr Platz im Abteil ist übrigens noch frei. Machen Sie es sich bequem!“, rief er – und verschwand. Ich sah ihm ratlos nach und versuchte, das Rätsel zu lösen. Später kontrollierte er bei allen die Tickets und sah sie sich aufs Genaueste an, mir jedoch nickte er nur zu.

Shanghai. Ich nahm die rund 300 Stufen hoch zur Autobahnbrücke über den Huangpu in einem Rutsch. Dann trat ich oben aus dem Aufgang in den Straßenlärm und in den Wind raus. Ein großartiger Blick über die Stadt. Ich sah mir die Ameisenstraße an. Hunderte von Autos schraubten sich über eine zehnspurige Betonspirale linksdrehend zur Brücke hoch, während die anderen sich gleichzeitig rechtsdrehend in die Stadt rein stauten. Ich baute das Stativ auf. Genau in diesem Moment tauchte eine alte Chinesin auf. Sie mag etwa siebzig Jahre oder älter gewesen sein, aber sie sah nicht danach aus, als ob ihr die  300 Stufen irgendwelche Mühen machten. Ich nickte ihr freundlich zu, aber sie sah sehr grimmig aus. Dann schritt sie etwa zehn Meter auf der Brücke an mir vorbei, drehte sich zu mir um und schimpfte auf mich ein, was das Zeugs hielt. Sie hörte überhaupt nicht mehr auf mit dem Geschrei. Sie zeigte mit dem Finger auf mich und wünschte mir vermutlich, ich möge auf der Stelle explodieren oder freiwillig runterspringen. Das Gezeter vermischte sich mit dem Autolärm zu einer beachtlichen Kakophonie. Irgendwann wurde es zu einer Art Nebengeräusch. Ich hörte mir das Chinesische eine Zeit lang an, ignorierte es dann und als ich mich irgendwann wieder umsah, war sie weg.

Marrakesh. Es war ein heißer und trockener Tag im Sommer 90. Vierzig Grad im Schatten waren die Regel und jetzt, nachdem die Sonne am Abend nachließ, wurden die Straßen belebter und die Händler öffneten wieder ihre Läden. Der Muezzin rief zum Abendgebet. Ich gab ein abenteuerliches Bild ab, mit meinen zerrissenen Jeans, den langen Haaren, einem ungepflegten Bart und einem viel zu großen Hemd und war auf dem Weg zum Zeltplatz, als mir ein Pärchen entgegen kam. Er war so unscheinbar wie unbeteiligt, aber sie war nicht meine Liga. Denn sie sah wie ein Model aus der Fernsehwerbung aus. Sie hatte einen sehr hübschen Lockenkopf und Brüste wie Fußbälle und dann sprach sie mich auch noch mit einem Lächeln an und lud mich zu sich ein! Es kam mir dermaßen unrealistisch vor, dass ausgerechnet diese Frau die erste in Marokko war, die mich ansprach, dass ich sagte, es täte mir leid und dass ich was zu tun hätte, obwohl es nicht stimmte. Sie versuchte es nochmal und ich sagte nochmal, ich hätte was Besseres zu tun. Ich frage mich bis heute, was ich verpasste.

Berlin. Ich lief über den Platz der Republik auf den Reichstag zu und ich sah sie schon von weitem. Obwohl ich viel zu weit weg war und der Einzige auf diesem Riesenplatz, meinte sie mich, als sie mir zuwinkte und rief, ich müsse unbedingt stehenbleiben. Sie zog einen Rollkoffer nach sich und schon am „Bleim se ma schdeeen“ erkannte ich das tiefste sächsisch. Ich blieb stehen und wartete ab, bis sie mich erreichte. Dann deutete sie auf das Reichtagsgebäude und rief: „Sachen se moa, des Gebeide da driebn, des genn isch doch ausm Fernsähn…“. Ich sah mich um. Keine versteckte Kamera weit und breit.

 

 

 

 

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