Job Nummer Neunzehn (Teil 2)

Die große Losung, die über allem stand, hieß: Ist mir egal. Oder: Geht mich nichts an. Der Spedition waren meine Arbeitsbedingungen egal. Ich war ja beim Subunternehmer angestellt. Dem Subunternehmer war es egal, wie lange ich hinterm Steuer saß. Er wurde für die Fracht bezahlt. Den Gabelstaplerfahrer ging es nichts an, wie eilig ich es hatte. Dem Disponent war es egal, ob ich richtig geplant hatte. Die Polizei war nicht daran interessiert, sich irgendwelche Entschuldigungen anzuhören. In der Innenstadt mit einer Palette stundenlang anstehen? Egal. Mit 89 jemanden überholen, der 88 fährt? Egal. Nach vierzehn Stunden keinen Parkplatz mehr finden? Egal. Jeder machte seinen Job – und die anderen machten ihren. Trucker-Romantik auf der Autobahn? Es schien auf der ganzen Welt keinen anderen Höllen-Job zu geben, der so abgefuckt war, wie dieser. Und doch gab es erstaunlich viele, die das durchstanden. Sie ertrugen es einfach. Als ob es morgen schon besser werden würde. Wahre Helden. Und ich war noch gut dran mit unseren LKWs. Die waren wenigstens technisch okay und ich musste jetzt nicht auch noch KFZ-Mechaniker sein, wenn es ein Problem gab. Bei den Jungs aus Kasachstan oder Armenien sah das ganz anders aus.

Womit ich mich aber auskennen musste, das waren die Fahrtenschreiber. Über dem Tacho war eine runde Glasscheibe, die mit einem Metallring versiegelt war. Den knackte man, hob das Glas hoch und klappte die Tachoscheibe nach oben. Drunter war ein rundes Papier, auf dem aufgezeichnet wurde, wann und wie lange ich in welchem Tempo fuhr. Zu fünf Minuten zu schnell fahren sagte keiner was, aber wenn ich zwanzig Minuten über 90 drauf hatte, kostete es was. Und wenn ich über acht Stunden am Steuer saß, würde es richtig teuer werden. Also nahm ich alle vier Stunden eine der frischen Scheiben, tauschte sie gegen die alte aus und verschloss die Klappe wieder mit einem neuen Metallring. Die alten Scheiben musste ich zwar herzeigen können, aber bei einer Kontrolle reichte es zu behaupten, dass der Mitfahrer von der letzten Scheibe schon ausgestiegen war.

Es gab in den 80-ern und 90-ern diese „Hallo-Wach-Tapes“ – so wurden die Pillen genannt. Sie hatten ungefähr die gleiche Wirkung wie heute eine Dose Red Bull. Man wurde also kurz wach davon, aber auf Dauer halfen die überhaupt nichts. Es gab sie sogar frei verkäuflich in den Raststätten. Das Einzige, was wirklich half, war eine gute Nase Speed. Aber das wäre absurd gewesen. Für einen Hungerlohn in einem beschissenen Knochenjob zu fahren und das Geld dann für Drogen ausgeben, um genau diesen Job durchzustehen. Also war der Ablauf im Ungefähren: Kaffee, Kaffee, noch mehr Kaffee, unglaubliche Mengen an Kaffee – und wenn nichts mehr ging und der Sekundenschlaf einsetzte, ein kurzes Nickerchen auf dem Rastplatz. Ich soff jeden Tag so um die zwei Liter Kaffee, rauchte 30 Zigaretten und fuhr irgendwas zwischen 10 und 15 Stunden, aber nie weniger als Zehn. Wenn ich nicht mehr konnte, brauchte ich Parkraum für dreizehn Meter LKW plus Hänger, was nachts faktisch unmöglich war, weil alle Rastplätze dicht waren. Also hielt ich im Kurzparkbereich bei den PKWs und schlief, bis mich jemand weckte.

Bezahlt wurde nur, solange man fuhr. Du konntest Dich krank melden, aber wenn Du länger als drei Tage nicht am Start warst, war der Job weg. Die Disponenten riefen einfach beim Sub an, der dann einen anderen aus dem Bett klingelte. Also wurde man nicht krank. Die meisten kurierten sich quasi am Lenkrad aus. Sie saßen ja schön warm und eine besondere physische Anstrengung erforderte das Fahren nicht. Ein dauerhaft bleibendes Problem war halt die Gefahr des Einschlafens und hin und wieder hörte man, den oder den hat es hier oder da erwischt und dann sah man ihn nicht wieder.

Eines Abends rief ich Höhe Hildesheim beim Disponenten an, weil ich die Ladung nicht mehr los wurde. Es war knackvoll im Berufsverkehr und es war schon kurz vor Sechs und ich konnte es unmöglich bis halb Acht nach Bremen schaffen. Der Disponent fackelte nicht lange: „Ok. Fahr nach Göttingen zur Spedition Zufall und da lädst du ab“ – und schon war er wieder weg. Idiot, dachte ich. Verarschen kann ich mich selber! Spedition Zufall! Ich stieg wieder in den Sessel und fuhr weiter Richtung Bremen – bereit, eine Nachtschicht im LKW wegzuschlafen. Nach einer Weile war ich mir nicht mehr sicher, ob er mich wirklich nur ärgern wollte, also hielt ich an der nächsten Raststätte wieder an und wählte die Nummer ein zweites Mal. „Was ist?“ herrschte er mich an. „Spedition Zufall, ja?“ fragte ich spöttisch zurück. „Du hast die Adresse nicht?“ war die Antwort. „Woher denn?“ fragte ich zurück. Er sagte die Adresse an und legte wieder auf, ohne die Antwort abzuwarten. Idiot, dachte ich schon wieder – jetzt hatte er sich auch noch ’ne Adresse ausgedacht! Bevor ich wieder einstieg, besorgte ich mir in der Raststätte einen Sechserpack Bier, öffnete die erste Flasche noch auf dem Parkplatz und zog sie in nur zwei Zügen durch. Es ging mir jetzt entschieden besser. Kurz darauf lernte ich einen Tschechen kennen, der von Amsterdam nach Budapest unterwegs war und ich gab die Pointe mit der Spedition Zufall zum besten. Und der kannte die auch noch! Der Disponent wollte mich gar nicht hochnehmen, der war nur wortfaul. Das machte der Job also auch noch mit einem. Alles und Jedermann richtete sich gegen mich und ich traute niemandem mehr, selbst wenn er mir helfen wollte.

Ich fand die Firma Zufall dann tatsächlich noch und lud die beiden Paletten dort ab. In dieser Nacht fuhr ich zum letzten Mal die A7 runter, achtete am Kasseler Kreuz und auf der A5 am Frankfurter Westkreuz auf die fest installierten Blitzer, lenkte die Karre mitten in der Nacht auf den Parkplatz der Spedition und gab die unterschriebenen Papiere zurück. In weniger als zwei Stunden würden hier wieder die Tore an den Rampen hochgezogen werden und die Lohnsklaven im Ameisenhaufen umher laufen, bis alles wieder beladen und bereit war, für einen Tag auf Deutschlands Autobahnen kreuz und quer zu fahren. Ich ging zur Dispo in den Verteilerraum, suchte mir das richtige Fach und legte die Schlüssel auf den Tresen vom Nachtdienst. Ich war so müde, dass ich hier auf der Stelle hätte umfallen und auf dem Boden schlafen können. „Bis morgen“, rief mir der Typ hinter der Scheibe zu und nahm sich die Schlüssel weg. „Ich glaube nicht“, sagte ich.
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