Sonja war elf. Ich war doch schon zwölf!
Wir spielten mit den anderen Kindern jeden Tag in dieser Baustelle des Neubaus. Wenn wir die Zäune, auf denen "Eltern haften für ihre Kinder" stand, auf die Seite schoben, stand uns der ganze Kosmos offen. Wir rannten durch die Etagen, jagten die Treppen rauf und runter, durch künftige Bäder, Küchen, Schlafzimmer, die Flure entlang, und die Mutigen unter uns sprangen vom Balkon in die Sandhaufen und von da aus wieder von neuem in die Aufzugschächte, in denen man über Leitern Etagen bis zum Dach abkürzen konnte. Wir hangelten uns an Stories entlang, die ohne dieses Labyrinth nie entstanden wären. Nicht diese Cowboy – Indianer – Sachen, nicht dieses Räuber – Gendarmen – Zeugs. In leidenschaflichen, energischen Geschichten mit überraschenden Wendungen rauschten wir atemlos bis zur völligen Erschöpfung durch Paläste, zu denen nur wir die geheimsten Pläne und Zugänge hatten. Wir stürmten sie in Sonderkommandos, lauerten unseren Feinden in den übelsten Hinterhalten mit Wunderwaffen auf, jagten James Bond vom Dach des Empires und seine Weiber zum Teufel. Nichts konnte uns stoppen, und was immer geschah, gehörte zum Drehbuch. Wir wohnten da drin und wir statteten das Schloss mit den Dingen aus, die wir uns noch alle leisten würden – ganz egal wie abgehoben und durchgedreht die Ideen waren. Es waren gute Spiele voller Kraft, Fantasie und Abenteuer.
Nach mehreren Stunden Vollgas thronten wir im Sonnenuntergang auf dem großen Sandhaufen in der Mitte des Palasts und ließen den frühen Abend bis zu dem Punkt ausklingen, an dem uns unsere Eltern zum Abendessen erwarteten. Das war keine bestimmte Uhrzeit. Es war der Moment, in dem die Sonne verschwand. Das war unsere Zeit. Meist waren Sonja und ich die letzten. Wir saßen nebeneinander, redeten oder spielten wortlos mit den Händen im Sand und genossen die warme Sonne auf der Haut. Ich mochte sie sehr, denn sie strahlte etwas aus, was die anderen Mädchen nicht hatten. In gewisser Weise war sie viel erwachsener als die anderen, aber ich wusste nicht warum. Obwohl sie kein bisschen wie die großen Mädchen aussah. Man musste zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass sie auf die Toilette mit dem D durfte. Ihr blondes Haar war total kurz und völlig struppig nach allen Seiten hin abstehend. Sie hatte noch überhaupt keinen Busen, nicht mal ansatzweise. Sie war flach wie ein Brett, aber ich wusste, dass da noch was kommen würde, was ich mal anfassen soll. Ich hoffte jeden einzelnen Tag darauf, dass ich was wachsen sehe. Außerdem hatte sie schon mal geraucht, was Lichtjahre vom Kindsein weg war. Vor allem aber hatte sie überhaupt keine Berührungsängste wie die anderen Mädchen. Als einzige von allen war sie stets in meinem Team und das meiner Jungs, während die übrigen Mädchen immer nur miteinander gegen das Böse der Welt kämpften.
Es muss Hochsommer gewesen sein, denn es waren überaus warme Abendstunden im Sonnenlicht, viel wärmer als mancher Sommertag und die Sensation kündigte sich Tage vorher schon an. Wir hatten beide kurze Hosen an und saßen dicht beieinander. Unsere Knie berührten sich. Es war ein angenehmer Hautkontakt und alles war sehr vertraut, denn es war so wie gestern und gestern war so wie vorgestern. Wir saßen da einfach und schauten in die Abendsonne, auf den Sand, auf diese riesige Baustelle. Wir baggerten den Sand mit unseren Händen in tiefen Furchen zwischen unseren Beinen raus und schaufelten ihn auf andere kleine Häufchen oder ließen ihn gegenseitig auf die Knie rieseln. Der Moment, in dem wir beide aufstehen und nach Hause gehen, konnte nur noch Minuten entfernt sein, denn die Sonne versank genau in diesem Moment hinter dem Baustellenblock. Dann drehte sie sich plötzlich zu mir, zog mein Gesicht mit beiden Händen zu sich und ich kippte fast vorneüber, als sie mir ihre Lippen aufdrückte und mir einen tiefen, intensiven, nie enden wollenden Zungenkuss gab. Sie bewegte ihre Zunge sehr schnell, aber ich gab intuitiv nach und brachte sie damit in den Walzertakt. Mein Herz bummerte wie wild, während ich einen tiefen, mich überwältigenden Rausch zuließ, der mich fast um den Verstand brachte. Nach einer Ewigkeit brach sie ab, stand abrupt auf und rannte nach Hause. Ich pustete durch und begriff kein bisschen, was gerade geschehen war, spürte aber im gleichen Moment, dass gerade der Anfang vom Ende meiner Kindheit begann. Das war ein gutes Gefühl und ich war ungemein stolz drauf. Mit dem Bewusstsein, gerade etwas Großes erschaffen und erlebt zu haben, saß ich noch eine Weile in der aufziehenden Kühle des Schattens und ging dann wie in Trance nach Hause. Es war der erste Kuss meines Lebens und es war der einzige, den ich von ihr erhielt und es ist für immer der Kuss meines Lebens, den ich nie wieder vergesse.
An diesen Augenblick des Glücks habe ich an den verschiedensten Punkten meines Lebens auf sehr unterschiedliche Weise zurück gedacht. Zunächst in großer Sehnsucht, als ich die zweite und dritte und vierte Küsserin kennenlernte, noch bevor ich das nächste Schuljahr hinter mir hatte. Aber sie hatten's nicht drauf, auch wenn ich mich noch so sehr anstrengte, es ihnen zu zeigen. Einige Jahre später zweifelte ich, ob das wirklich alles so geschehen war. Es schien mir zu unwahrscheinlich, dass eine Elfjährige so genau wusste, wie sie meinen Goldfisch zum Kreiseln bringt. Es folgte eine Phase, in der ich für mich zusammenzählte, in wie vielen romantischen Augenblicken ich die Hauptrolle spielte und das war definitiv einer der wenigen, den ich als solchen auch körperlich erfuhr und der es rückblickend immer geblieben ist. Heute aber, erzähle ich diese Geschichte mit Abstand. Ich erahne, warum diese emotionale Kraft so eruptiv aus ihr herausbrach und mir diesen unerwarteten Moment für immer schenkte. Und heute weiß ich auch, was sie mir damals anvertraut hat. Und ich will dieses Bild nicht sehen, denn es macht mich rasend wütend, und ich würde dem Arschloch, das ihr das angetan hat, gerne mit Volldampf in die Fresse hauen.
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Gelesen am 7.6. bei der Kreuzberger Literaturwerkstatt (Nepomuk), Text 1