„Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.“ (Apostelgeschichte, neues Evangelium)
Es begann immer schon freitags und es war immer an Pfingsten und keiner auf dem ganzen Platz wusste, wie das eigentlich angefangen hatte mit dem Festival auf dem Burggelände. Als ich im ersten Jahr dazukam, waren es zehn oder fünfzehn Zelte, aber schon im Jahr darauf musste man sich einen guten Platz suchen auf einem Gelände, das jetzt ein bisschen aussah wie eine skurile Campingausstellung. Alles stand kreuz und quer auf dem Gelände der alten Burg, mit lauter Exponaten, die nicht mehr so ganz taufrisch waren. Eigentlich sollte es ein Musikfestival werden und im Grunde genommen war es das auch, aber es gab keine feste Bühne und es gab kein Programm. Irgendwer fing einfach an zu klampfen oder zu trommeln und wir machten mit oder hörten zu, rauchten Gras und ließen die Weinflaschen kreisen. Das war unser Woodstock hier und es wurde zu dem, was wir draus machten – ein Hippiefestival.
Es entschädigte mich für eine irgendwie undefinierbare Sehnsucht nach 1969, das ich nicht miterleben durfte, weil ich dafür zu jung war. Aber dass ich in den 80ern drei Jahre nacheinander diese Sehnsucht voll ausleben durfte, das war einfach wunderbar. Wir bauten in spontanen Workshops Wasserpfeifen aus erntefrischem Gemüse und Obst und mein selbst noch adoleszentes Leben wurde in diesen Tagen um einige wichtige Erfahrungen reicher. Am Samstag kamen dann meist ein paar Ökobauern oder Händler der Umgebung vorbei und verkauften an spontan zusammengebauten Ständen Schmuck, Instrumente, Tücher, Obst, Biogemüse, Marmeladen, Honig, selbstgemachtes Brot, Fruchtwein oder selbstgebrannten Schnaps. Mit ein bisschen Geld in der Tasche – und mit hundert Mark kam man damals ganz schön weit – konnte ich ein formidables, verlängertes Wochenende verbringen, das alles bot, was mir Spaß machte.
Es war immer wieder lustig zu beobachten, wie die Polizei entweder von Spaziergängern oder Anwohnern oder anderen Denunzianten darüber informiert wurde, dass die Hippies wieder da waren und dann kamen sie mit einem einzigen Streifenwagen und fuhren in großem Abstand und deutlichem Respekt vor der Menge um die Burg herum, schauten uns wortlos an und versuchten zu übersehen, dass eine größere und eigentlich unübersehbare Menge an Drogen die Runde machte. Im dritten Jahr meines Burgfestivals waren sie mit einer größeren Anzahl an Autos vor Ort und das war beunruhigend, weil ich das von den Demos und Waldlagern her kannte. Dann wurde es etwas unentspannt im Lager und wir beäugten uns gegenseitig eine Weile, aber dann entschieden sie sich, doch nicht auszusteigen und Stunden später war wieder alles beim alten. Wir mochten unsere kleine, freie und revolutionäre Republik, die wir jedes Jahr dort einrichteten, so voller Liebe, Musik und freiem Leben unter lauter Gleichgesinnten und es war ein tolles Abenteuer, einer von ihnen zu sein und die ganze übrige Welt war irgendwo „da draußen“.
Die Burgmauern gaben uns zudem das Gefühl von Geborgenheit und man hatte nie das Gefühl, man müsse jetzt besonders vorsichtig sein, wenn man gerne mal was ausprobierte, wohingegen der Alltag komplett anders aussah: Wir waren alle entweder in Ausbildungen und Jobs, die wir nicht mochten oder hatten keinen Plan, wie das jetzt nach der Schule oder den abgebrochenen Studien weitergehen sollte. Zu diesen drei- oder viertägigen Fluchten pflegten wir unsere Macken und Freiheiten und wir hatten alle gemeinsam, dass wir uns auf dem Weg aus der Gesellschaft da draußen in eine neue und selbstbestimmte Zukunft befanden. Und wir hatten einfach genug von den ganzen Repressionen gegenüber uns Kiffern, Langschläfern, Revoluzzern und Querdenkern.
Mit dem Sonntag kam dann regelmäßig der Tag, an dem die Zigarettenblättchen und wenig später auch der Tabak ausging. Drogen aller Art gab es in jedem Wigwam, jedem Wohnwagen und in jedem Wohnmobil, aber komischer Weise kalkulierten alle zu wenig Tabak mit ein oder verbauten zu viele Joints und die Zigarettenblättchen waren mal wieder alle. Dann erbarmte sich irgendwer von uns und fuhr in die Stadt eine Tanke suchen, kaufte dort den kompletten Vorrat an Tabak und Blättchen leer und kehrte unter allerlei Applaus und Hallo triumphierend damit zurück. Es gab sehr viel und sehr schöne Musik, nicht nur die aus den Boxen der Wohnmobile, denn die versorgten uns ohnehin – so als Grundrauschen sozusagen. Aber wir selbst machten die Musik, zu der wir Lust hatten. Oft kamen spontan ein paar sehr gute Sessions zusammen und manche davon hätten es ohne weiteres verdient gehabt, in einer Radiosendung zu laufen oder auf eine CD gepresst zu werden (die zum Zeitpunkt dieser Festivals noch gar nicht erfunden waren). Jedenfalls kam es mir so vor. Bongos und Gitarren waren am meisten vertreten, aber manche spielten auch mit Flöten, Mundharmonikas oder Quetschkommoden, es war allerorts ein Gesang und Gespiele unterwegs, dass es schwer fiel, von einer Festivalecke in die gegenüberliegende zu laufen, ohne zehn Mal stehen zu bleiben.
Und wir schlossen Freundschaften schneller, bevor wir sie überhaupt definierten. Hin und wieder bekam man auch irgendwas überreicht, von dem man gar nicht wusste, was es war. Also zog man dran oder probierte davon und kriegte dann schon raus, wozu das gut war. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem irgendwer sagte, sie gingen jetzt zum Opium rauchen und es war das Selbstverständlichste, einfach mitzugehen, sich ans Lagerfeuer zu setzen und zu warten, bis die Tonpfeife bei mir ankam. Ich erinnere mich noch, dass es inzwischen nachts war und um cool zu wirken und einfach weil ich die Sachen auch gerne trug, hatte ich eine Sonnenbrille und einen Schlapphut an. Ich sah also sowieso fast niemanden mehr um mich rum, weil es zu dunkel war und ahnte nur von den Stimmen her, wer der Spender war. An der Stimme erkannte ich, dass wir nachmittags noch zusammen zu Neil Young sangen. Wer aber gerade direkt links oder rechts von mir saß, war völlig unwichtig, so lange er was zu sagen hatte. Und als die Opiumpfeife vorbeizog, war es erst recht egal. Ich habe wenig Erinnerungen an den weiteren Abend, aber diese unfassbar köstlich schmeckende Ökolimonade vom Bauern, die war echt der Knaller. Dann erzählte der rechts von mir über die Geschichte der Opiumhöhlen und noch während wir darüber diskutierten, wie sehr das Opiumrauchen mal in der Gesellschaft verwurzelt war, bekam ich lustige Halluzinationen derart, dass wir doch alle auch mal ein Lovehappening veranstalten könnten und fragte mich, welches der Zelte oder umgebauten LKWs wohl groß genug dafür sein könnte.
Später kam ich noch an einem anderen Lagerfeuer vorbei und erst als jemand in meine Richtung rief „der steht da ja mittendrin“, merkte ich, dass sie mich meinen. Gespürt hatte ich jedenfalls nichts und gesehen sowieso schon seit Stunden nichts mehr. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass man auch ein erfülltes Leben mit einem guten Gehör bestreiten kann. Die Sonnenbrille war wie angewachsen und wohin ich gerade lief, konnte ich schließlich auch hören. Als ich morgens aufwachte, hatte ich einen Schädel wie nach einem amtlichen Besäufnis und ich wünschte mir nichts mehr, als den Kopf in eine lauwarme Teekanne zu stecken und einfach abzuwarten. Dann fiel mir meine erotische Fantasie vom Vorabend wieder ein und ich hatte das seltsame Gefühl, mich an Körperlichkeiten zu erinnern, aber ich wusste nicht mehr mit wem. „BACK IN THE SUMMER OF 69“ – schrie ich aus meinem Zelt raus – und alle rundum lachten. Montag abends packten wir unseren Krempel zusammen, beobachtet von den immer wieder vorbeifahrenden Dorfpolizisten, die bestimmt heilfroh waren, dass sie das Lager nicht räumen sollten. Außerdem fegten wir den Platz immer peinlich und akribisch sauber, sammelten den ganzen Müll – und zwar getrennt (!) – an einer (!) Stelle und hinterließen ansonsten nichts bis auf den ein oder anderen verbogenen Zelt-Hering. Das war es wieder mal mit einem Pfingstwochenende voller Love, Peace, Music and Happiness und keiner wollte im nächsten Jahr fehlen, aber irgendwann war es halt doch so weit und das Lager verschwand wieder aus meinem Leben, wie ein ehemals vom Himmel her brausender Sturm, der das Haus verlässt, indem wir saßen. Fragt bitte nicht, warum.
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