Frechheit siegt

Die Auswahl war nicht groß. Entweder sollte ich in einem Rettungsfahrzeug mitfahren, was ich mir auf die Dauer langweilig vorstellte oder in der Uniklinik meinen Zivildienst leisten. Universitätsklinikum! Das hörte sich mächtig nach was an. Ich stellte mir vor, wie die Chirurgen diskutierten, bevor sie jemanden in Stücke schnitten: "Hey, müsste das nicht von hinten nach vorne geschlitzt werden? Wir sind hier schließlich an der Uni". Und die Schwestern hatten bestimmt alle eine wahnsinnig gute Ausbildung. Sie kriegten alle extra Zuschläge, weil sie Unischwestern waren. Morgens würde man Dienst haben, mittags eine Vorlesung besuchen und abends mit den Kollegen fachsimpeln. Und wer dort Zivi war, der kriegte sein Diplom fürs Leben. So stellte ich es mir vor. Also machte ich es.

Der Campus bestand aus jeder Menge Fachkliniken, was meine Fantasie noch beflügelte. Sie gaben mir ein Zimmer in einem der drei Wohnheime. Zehn Etagen hoch. In jedem Flur fünfzehn Zimmer. Meins war die Nummer Vier. Es lag direkt neben dem Aufzug, nah bei der Küche und nur wenige Meter zu den Toiletten und Duschen, was mir sehr passte. In den anderen vierzehn Zimmern wohnten allesamt Schwesternschülerinnen. Bis zum Ende des Jahres war ich schon drei mal unsterblich verliebt. Lief. Wenn ich nachts Hunger hatte oder aufs Klo musste, lief ich die kurze Strecke nackt übern Flur. Ich war zu faul dazu, mir was anzuziehen und was machte es schon? Es gab noch weitere Zivis im Block. Wir waren alle in unterschiedlichen Stationen untergebracht. Die Arbeit machte Spaß, aber wir brauchten ab und an eine Pause und die nahmen wir immer gemeinsam. In der Innenstadt gab es einen Arzt. Die Militärs hatten ihn aufs Übelste behandelt, als er jung war, weswegen er eine ausgeprägte Wut gegen die Bundeswehr pflegte. Das kam uns jedes Mal sehr entgegen.

Wir betraten die Praxis zu fünft. Es gab keine Anmeldung oder sowas. Die ganze Klitsche war einfach so runtergekommen, dass er die Patienten selbst zu sich rein rief, indem er aus seinem Behandlungszimmer immer "Noch jemand da?" nach draußen fragte. Er regelte das allein. Im Wartezimmer lösten sich die Textiltapeten langsam von oben ab. Es gab Sessel aus den Fünfzigern mit Armlehnen und mit Bezügen aus Kunstleder, das sich entspannt dem Arsch anpasste. Wenn wir dran waren, gingen wir alle gemeinsam rein. Zwei setzten sich, drei blieben stehen. "Was führt euch zu mir?", fragte er und zog die buschigen Augenbrauen hoch. "Kopfschmerzen", sagte ich. "Hört, hört…", sagte er dann meistens. "Und du so?", fragte er meinen Nachbarn Stubbi, der Stubbi hieß, weil er das Bier ausschließlich aus Stubbis trank: kKleine, knuffige Flaschen zu einem Drittel-Liter Gerstensaft. "Halsweh", sagte Stubbi. "Aha! Hört, hört!", rief er. "Und du da?", zeigte er auf Schlürf, der so hieß, weil er… naja lassen wir das… "was fehlt dir?" "Ich hab' Fieber", sagte Schlürf. Unser Doc wartete drei, vier Sekunden Kunstpause ab. Dann rief er so laut, dass man es im Wartezimmer noch locker hören konnte: "EPIDEMIE! EPIDEMIE! Ist ja Wahnsinn, wie viele es erwischt!", nahm einen Stapel Krankenscheine und ermahnte uns, nächste Woche wiederzukommen, falls es nicht besser wurde. Uns blieb dann nur noch auszulosen, wer von uns die Gelben in der Verwaltung abgab. Dieses Mal erwischte es mich, durfte mich dafür aber auch um die Freizeitgestaltung kümmern.

Ich tat wie Tulpe und schob die Scheine in den Hausbriefkasten. Dann stieg ich in den Kadett und fuhr hoch zur Brauerei. Weil ich wusste, dass man zur Besichtigung immer 'ne Anmeldung braucht, sagte ich zum Pförtner "Heute ist 'ne Führung. Wann trifft sich die Meute?". Ein Volltreffer. Er suchte in seinen Notizen und fand "18 Uhr. Bitte pünktlich." "Ist geritzt, Meister". Ich fuhr in meiner Badewanne zurück ins Wohnheim und kaufte unterwegs ein paar Sachen ein, um die Mädels zu bekochen, wenn sie von der Schicht kamen. Das zahlte sich erfahrungsgemäß aus. Dann informierte ich die Jungs und gegen Sechs standen wir völlig stressfrei vor den Braumeistern unseres Vertrauens. Ich hatte die Show schon mehrmals hinter mir, deswegen wusste ich, was uns erwartete und freute mich auf die beiden Freibiere, die es jedes Mal am Schluss für uns in der Brauereikneipe gab. Aber dieses Mal lief es anders. Der Erklärbär tapste extra große Runden übers Gelände und brummelte sehr viel. An der Abfüllanlage ließ er schließlich die Meute zusammenkommen und erklärte uns voller Stolz, warum wir diesmal viel mehr zu sehen bekamen: "Da sehen sie mal", brummte er, "wo ihre Männer und Söhne die Schicht über rumstehen". Das also war des Rätsels Lösung. Das hier nur Kerle schufteten, war normal. Aber wir waren in eine Betriebsführung für Angehörige der Arbeiter und Angestellten geraten. Es beunruhigte uns nicht weiter, aber der Unterschied sollte schon bald sehr deutlich werden.

Als wir in die Gaststube kamen, stand die erste Runde perfekt gezapftes Pils bereits auf den Tischen. Daneben Teller, Servietten, Besteck und eine kleine Menükarte, aus der wir zwischen Kasseler, Sauerkraut, Kroketten und Linsensuppe mit Käsewürstchen wählen konnten. Wir suchten uns ein paar Plätze an einem der riesig langen Tischreihen aus, hoben die Gläser und ließen es laufen. Selbst Stubbi, der Stubbi hieß, weil er das Bier nur aus Stubbis trank, ließ Fünfe grade sein und orderte sein Stubbi erst nach der Ouvertüre. Nach dem Vierten kam das Essen und nach dem Siebten das Dessert. Wir waren kurz vor hackedicht, als die ersten Fragen nach unserem Brauereistatus auftauchten. "Verwaltung", bärte ich meine Nachbarin an, aber sie ließ nicht locker. "Bei Frau Müller?" hakte sie nach. "So isses", lallte ich zurück, "diemäckertganzenTach". Schlürf stupste mich unterm Tisch an und sah ängstlich aus, als ob er gleich vermutete, in Sippenhaft abgeführt zu werden. Stubbi schob sein gesammeltes Leergut beiseite und checkte die Fluchtwege ab. Ich hingegen spürte, dass es an der Zeit war, dem Ganzen noch etwas Nachdruck zu verleihen. Schließlich hatte ich den Jungs den Abend hier klargemacht.

"Also, die meckert wirklich viel", bestätigte meine Tischdame. "Siehsse", sagte ich "damuss'u'ersmadurch. Wasmassnduso?", fragte ich zurück. "Ich mach hier gar nix. Aber mein Mann, der arbeitet hier im Einkauf und muss oft mit der Müller zusammen was machen." Sie drehte sich um und rief "Häärbääärt! Herbert, komm mal her, da sitzt jemand, der auch mit der Müller nicht kann" zum Nachbartisch. Meine Jungs zuckten reflexartig hoch, aber ich war besoffen genug, um die Ruhe zu bewahren. Alles unter Kontrolle. "NälassmaHäärbäärt", raunzte ich rüber, "wirmachnjezzlos". Herbert schaute mich prüfend an. Man konnte sehen, wie er sich krampfhaft an mich zu erinnern versuchte. Ich hob das Achte an und prostete ihm zu. Das gefiel ihm und er vergaß den Gedanken für einen Moment. Ich blieb äußerlich gelassen, aber mir wurde trotz beiden Promillen klar, dass das Blatt ausgereizt war. Die Jungs und ich, wir nickten uns zu und standen als eine der Letzten vom Tisch auf. Ich hob das leere Glas und grüßte lautstark "na's'hatabrleggagschmeggt" in die Runde und verließ mit den anderen die Arena unter allerlei "tschüssi" und "besmoagn", obwohl ich viehmäßig pissen musste. Draußen schaffte ich knapp dreißig Schritte bis zu einem ausgedienten Kessel und ließ es dann reinplätschern. "Morgenbisdudranmidplan" lallte ich Stubbi zu.

 

 

 

 

*************

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert