Erinnerungskultur

Bild: Jugendherberge Freiburg

Erinnerungen aus der Realschulzeit sind immer noch genug für ein paar unsterbliche Texte, aber was am deutlichsten hängen blieb, waren die besonderen Momente, die gar nichts mit der Schule zu tun hatten. Dass ich zum Beispiel monatelang mit dem Fahrrad jeden Tag sechzehn Kilometer hin und zurück gefahren bin und versuchte, die steilsten Berge hoch zu treten. Oder der Moment, als ich mich als der einzige Junge meiner Klasse für den Kochunterricht, statt für den Werkunterricht meldete, weil ich wusste, dass es die bequemere Wahl war. Oder wie mich die hübsche Italienerin Gina auf dem Rückweg von der Klassenfahrt unvermittelt küsste, obwohl sie sonst bei keinem Anwerbeversuch schwach wurde, egal von wem er kam. Solche Sachen fallen mir haufenweise ein, wenn ich an meine Schulzeit denke. Und natürlich die Abschlussfahrt. Da erzählen andere von sagenhaften Traumzielen, aber wir fuhren nicht nach Paris, Rom oder Madrid, nein, es ging in die Jugendherberge nach Freiburg im Breisgau! Aber letztendlich war das eh egal. Es kam weniger aufs Ziel an, mehr auf das von uns erwartete Ritual. Wer das eigentlich erwartete, wussten wir gar nicht so genau. Für uns Jungs aber, war klar: Wo sonst, außer auf der Klassenfahrt im letzten Sommer der Schulzeit, sollten wir uns ungestraft benehmen können wie die Bekloppten?

Für die Zugfahrt stopfte ich mir zuhause zur Sicherheit ein paar Flaschen Bier mit ins Gepäck und lag damit goldrichtig. Als ich im typischen Sechser-D-Zug-Abteil vorschlug, die erste Flasche Bier zu knacken, sozusagen als Prämie fürs Durchhalten der Schulzeit, kramten auch die anderen nach ihrem Vorrat. Wir waren die coolen Jungs der Klasse und dafür mussten wir auch ständig was liefern. Es stellte sich dann heraus, dass jeder von uns vorgesorgt hatte. Gute vier Stunden Zugfahrt und so um die fünfzehn Flaschen Bier – da hatten wir gute Laune, als wir ankamen. In der Jugendherberge war jeglicher Stoff verboten. Sie lag außerhalb der Stadt und bevor wir in den Bus stiegen, blieb noch etwas Zeit, um die Vorräte wieder aufzufüllen. Wir gingen davon aus, dass wir uns gleich am ersten Tag für die ganze Woche vorsorgen müssten. Also räumte ich meine Tasche aus, verteilte meine Klamotten auf die anderen Jungs und schaffte es, im Supermarkt am Bahnhof die Tasche mit Bierflaschen so voll zu stopfen, dass sie kaum noch zu tragen war. Die Henkel waren kurz vorm Abreißen. Meine Rechnung ging trotzdem nicht auf: Für alle Fünf drei Flaschen mal sieben Tage, so viel passte da einfach nicht rein. Aber ich war der Held des Tages, als ich mit der Beute in den Bus stieg. Jetzt galt es nur noch, die Tasche schauspielerisch leicht aussehen zu lassen und nicht nach dem, womit sie tatsächlich gefüllt war. Als der Hausmeister uns die Zimmer zeigte und ich die zwanzig Kilo die Treppe hoch wuchtete, stieß ich gegen das Geländer im Treppenhaus, was ein ziemlich eindeutiges Geräusch von Glas auf Metall erzeugte. Er blieb kurz stehen. „Ihr habt doch etwa keinen Alkohol dabei“? „Neeein!“ riefen wir voller Überzeugung aus einem Mund. „Auf gar keinen Fall“, ergänzte ich, um besonders cool auf meine Buddies zu wirken. Ansonsten machte er keine weiteren Anstalten, zeigte uns das Zimmer und ich sortierte im Kleiderschrank die Bierflaschen ein. Die Woche konnte beginnen!

Wir machten tagsüber den ein oder anderen Ausflug oder hatten irgendwas sportliches im Programm. Abends soffen wir die Vorräte runter und strotzten nur so vor Kraft und Coolness. Der Höhepunkt unseres Programms war der Europapark in Rust, wo ich meinen persönlichen Rekord im Dauer-Achterbahnfahren aufstellte, aber so ganz genau weiß ich eigentlich nicht mehr, wie wir die restliche Woche so verbrachten. Außer dem Achterbahnfahren blieben mir jedoch noch zwei weitere Dinge in Erinnerung. Einige Tage nach dem großen Alkoholschmuggel ging das Bier zur Neige und auf dem Hinweg zum Supermarkt liefen wir unserer Klassenlehrerin in die Arme, die natürlich wissen wollte, was in unseren Taschen war. Es kam ihr wohl komisch vor, dass wir trotz Vollverpflegung unsere Reisetaschen mit in den Supermarkt nahmen. Das alleine wäre kein Problem gewesen, denn um doofe Ausreden waren wir selten verlegen. Aber weil das Taschengeld knapp war und wir fürs Bier sammeln mussten, hatten wir den gesamten Bestand an Leergut mit – und das war dann schon eine Überraschung, wie viel 3 Mark 50, gerechnet in leeren Flaschen sind. Da wir diesmal keine besonders gute Antwort hatten, außer der, dass wir draußen vor der Jugendherberge einen Berg leerer Flaschen fanden und dachten, dass wir die am besten gegen Gummibärchen tauschen, gab es einen ziemlich heftigen Anschiss. Sie sagte was von Konsequenzen und Vermerk, aber das rührte uns nicht sonderlich, denn die Schulzeit war ja quasi vorbei.Wem hätte sie es erzählen sollen, der uns noch einen Strick draus drehen würde?

Die andere Sache, an die ich mich noch genau erinnere, hatte eher eine sportliche Komponente. Von Anfang an war es abgemachte Sache, dass wir in einer Nacht die Mädchen besuchen würden. Auch das war eine Erwartung, von der ich heute nicht mehr weiß, woher die rührte. Waren es Filme wie „Eis am Stiel“ oder das Musical „Grease“, die uns an diese Verpflichtung glauben ließen oder waren es Erzählungen aus früheren Klassenfahrten, von Mitschülern oder Eltern? Selbst unsere Mädchen warteten drauf, dass wir eines Nachts auftauchen würden. Jedenfalls wussten wir, dass es ein unerledigter Job war, wenn wir hier ohne nächtlichen Besuch wieder wegfahren. Und dann war es so weit. Das Problem war, dass die beiden Haushälften für Jungs und Mädchen durch von außen verschlossene Türen im Treppenhaus getrennt waren. Auch die Eingangstür unten war verschlossen und Feueralarm auszulösen war nicht Teil unseres Plans. Obwohl wir in der zweiten Etage wohnten, dauerte es nur zwei Minuten, bis einer von uns auf die Idee mit den Bettlaken kam. In Filmen läuft das doch auch immer, wenn einer ausbricht, oder? Wir knoteten also die Bettlaken zusammen, dann die ganze Behelfsleiter wiederum am Fensterrahmen fest und seilten uns einer nach dem anderen an der Hauswand entlang runter in den Hof ab. Es war ein astreiner Stunt aus einem Actionfilm. Vom Hof aus war es ein Leichtes, auf das Dach der Mensa zu steigen und von dort aus robbten wir über die Wohnung des Hausmeisters hinweg bis zum Mädchentrakt. Das einzige Fenster, das wir erreichten, gehörte leider nicht zu unserer Schulklasse. Aber die Mädchen dort fanden es trotzdem toll, obwohl eine von ihnen ganz schön Alarm machte, als wir das Zimmer durchquerten. Dann schlichen wir hoch in die zweite Etage, wo wir schon unter großem Hallo erwartet wurden. Die Aktion selbst gab dann nicht so viel her. Wir setzten uns auf die Bettkanten und quatschten ein paar Belanglosigkeiten, bis der Hausmeister reinkam und uns unter größerem Gemecker und Getöse wieder raus warf. Er hatte uns gehört, als wir über sein Dach krochen, aber dieses Mal durften wir über den Flur zurück.

Am nächsten Morgen war es natürlich Gesprächsthema Nummer Eins, aber das war ja auch das Einzige, worum es uns ging. Auch ohne Paris oder Rom oder Madrid, es war doch irgendwie lustig und letztendlich kam es auch gar nicht drauf an, wohin wir fuhren. Wir hatten schließlich uns selbst, unsere Kraft, unsere Jugend und unsere bescheuerten Ideen, die wir feierten. Und auf der Rückfahrt setzte ich mich neben Gina, was sich ja dann auch noch lohnen sollte.
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