Während andere mit ihren Geschwistern spielten und teilten, war ich mit mir selbst beschäftigt. Das hatte Vorteile – wenn es Kuchen gab. Aber ich musste mir auch ’ne Menge einfallen lassen, um die ganze Zeit gut auszufüllen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich wie so viele andere Kinder, die ich heute beobachte, vor Langeweile am quengeln war oder meinen Alten auf die Nerven ging. Ganz im Gegenteil. Ich war froh, wenn ich allein sein durfte, um mir irgendwelche Spiele auszudenken, die ich mit mir selbst spielte und die Alten hatten ihre Ruhe. Wenn wir im Garten waren, schnappte ich mir den Fußball und ging auf den Sportplatz nebenan. Ich legte mir den Ball auf den Elfmeterpunkt, konzentrierte mich auf mein Ziel, nahm einen Anlauf, den Christiano Ronaldo später imitierte und zirkelte ihn gegen die Latte. Dann rannte ich dorthin, wo der Ball wieder zurück kam, stoppte ihn und schoss von da aus wieder an die Latte des Tors. Ich war so gut im Lattenknallen, dass ich das sechs, acht oder zehn Mal nacheinander schaffte. Ich konnte Stunden damit verbringen, meine Latten-Knaller-Fähigkeiten zu verbessern.
Zuhause dachte ich mir ein Spiel aus, dass die Häufigkeit von aufgedeckten Spielkarten dokumentierte. Dazu legte ich Spielkarten für mich und meine ganzen imaginären Spielpartner auf den Tisch und führte akribisch Buch, welche Art von Karten wie oft fielen. So konnte ich trainieren, mir die gespielten Karten besser zu merken und Holla-Die-Waldfee – ich wäre ein respektabler Pokerspieler gewesen, wenn man mich mit meinen zehn Jahren in die Spielbank gelassen hätte. Beim ’17 und 4′ hatte jedenfalls kaum jemand eine Chance gegen mich. Und im Memory-Spiel war ich nahezu unschlagbar. Außerdem gewann ich natürlich auch immer, wenn ich mit mir selbst spielte. Im Hallenschwimmbad nahm ich mir einen Flummi mit, tauchte ab, schoss wie Flipper aus dem Wasser und dotzte den Flummi mit Schmackes gegen die Wand, von wo aus er wie ein scharfes Geschoss zurückkam und ich bewies meine Flugkünste, um ihn wieder zu fangen. Das schaffte ich mühelos eine Stunde am Stück, bevor es langweilig wurde. Und als ich das Schachspiel kennenlernte, führte ich einen Zug aus, drehte das Brett und überlegte mir, was wohl die andere Seite spielen würde. Ich versuchte, dabei möglichst objektiv zu sein und mir eigene Pläne zu entwickeln, drehte das Brett wieder zurück und dachte über die Vorteile und Nachteile aus der Sicht der jeweiligen Farbe nach, führte einen Zug aus und drehte das Brett wieder zurück. Ich gebe zu, dass das ein ziemlich anstrengendes Spiel war, aber es brachte mich mühelos über endlose Nachmittage, während meine toupierten Tanten zusammen saßen und Kuchenschlachten gewannen. Aber meine mit Abstand liebste Beschäftigung war es, bei fremden Leuten oder bei unserer Verwandtschaft die Schallplattenecke zu durchstöbern, wenn wir zu Besuch waren.
Ich liebte es, mir die Cover der Platten aufs Genaueste anzusehen, selbst für das Plattenlabel, Ariola oder CBS, Sony oder EMI, interessierte ich mich. Ich sah mir die Bilder auf den Plattenhüllen an, beurteilte die Fotos, machte mir Gedanken darüber, ob ich den Titel der Scheibe und die einzelnen Lieder gut fand und welche Art von Musik sich wohl dahinter verbirgt. Auch aus den einzelnen Liedtiteln konnte man erahnen, worum es wohl geht und manchmal waren auf den inneren Hüllen auch Liedtexte, die ich las und so erzählte jeder einzelne Titel eine kleine Geschichte, in die ich mich rein versetzte. Wenn jemand mehr als zwanzig Scheiben hatte, tauchte ich vollends ab und war beschäftigt. Ich schaute mir sogar die Platten selbst an und versuchte anhand der Rillen herauszufinden, ob es sich um ruhigere oder lautere Musik handelte, denn ich hatte über die Jahre gelernt, dass ruhigere Liedpassagen auch wie glattere Pressungen aussahen und man die Rillen nicht so deutlich sah, wie bei lauter Musik. Ich sortierte die Platten danach, wie spannend sie für mich aussahen und der Höhepunkt war es dann jeweils, wenn ich auch welche auflegen durfte. Allerdings waren in der Regel keine Scheiben von Otis Redding, Chuck Berry oder Janis Joplin dabei, sondern von Udo Jürgens, Katja Ebstein oder Caterina Valente. Trotzdem nahm ich mich der Platten an, denn es gab keine anderen und ich schaute mir die Kleider, Schuhe und Frisuren von Conny Froebess an, studierte die Titel, Texte und Rillen, sortierte sie nach meinen besten Eindrücken und fragte schließlich auch jedes Mal, ob ich sie auflegen durfte.
Fast jeder unserer Bekannten und Verwandten hatte Schallplatten und fast jeder irgendeine Zusammenstellung von Schlager und Popsongs – und manchmal nur solche – die „Goldene Hitparade“ oder „20 Superhits für die deutsche Kinderhilfe“ hießen. Oft fand ich darauf Songs, die ich schon aus dem Radio kannte, was die Sache aber nur noch spannender machte. Rückblickend würde ich heute schätzen, dass Udo Jürgens‘ „Ehrenwertes Haus“ der am meisten gepresste Schlager auf allen Samplern war und manchmal gab es im Plattenregal auch gar nichts anderes als „BILD präsentiert die schönsten Hits“ oder ähnlichen Ohrenkrebs. Dann machte ich mir halt meine eigene Hitparade, indem ich mir alle Lieder sorgsam ansah und eine Liste der Schlager aufschrieb, an die ich mich erinnerte und die dann nacheinander als eine Variante von Silent Disco abspielte. Ich war völlig überrascht, als ich beim Durchblättern der Scheiben von irgendwem entdeckte, dass es auch englischsprachige Titel gab. Ich fragte mich, warum die nicht deutsch singen wie alle anderen auch, aber es hatte was Geheimnisvolles, die englischen Texte zu lesen, denn ich musste mir beim Hören von „Waterloo“, „Monday, Monday“ oder „Streets of London“ selbst ausdenken, was die da zum Besten geben.
Und ich erinnere mich noch ganz genau an diesen einen Moment, an dem ich mal wieder dabei war, die Platten einer meiner Tanten zu scannen, die sonst eigentlich nur Enrique Iglesias oder bestenfalls Reinhard Mey zu bieten hatte, als mir „Samba Pa ti“ von Santana in die Hände fiel, was ich beim Hören überhaupt nicht mehr einordnen konnte. Da sang weder einer drauf und es klang auch nicht im Entferntesten wie ein Schlager, überhaupt nur zwei Instrumente, wovon die Gitarre auch noch völlig durchdrehte. Das konnte einfach kein beabsichtigter Kauf gewesen sein und so war es auch. Die Platte lag irgendwo auf dem Wühltisch, wie ich erst viel später erfuhr und wurde nur gekauft, weil „Samba“ auf dem Cover stand und Tante gerade einen Tanzkurs begann. Egal. Von nun an hörte ich das Stück jedes Mal, wenn wir dort vorbei kamen und es fing schon bald damit an, dass ich meine Alten damit nervte, weil ich es ständig hören wollte. Diese Hitparaden-Listen führte ich schließlich auch zuhause fort und schnitt mit meinem SABA Kassettenrekorder vom Radio aus die Hits mit, ärgerte mich wie jeder andere über das Reinquatschen des Moderatoren in die Titel und führte akribisch Listen über den Inhalt meiner Kassetten. Ich erstellte mir meine ganz eigene Hit-Liste, die sich von nun an so oft veränderte, dass es kein Song länger als zwei Wochen auf Platz Eins machte. Ich hatte zweifelsfrei eine Menge zu tun. Geschwister hätten da nur gestört.
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Sehr gute Zusammenfassung! Schön zu lesen! LG Brita