Wenn man auswärts antrat, konnte man sich schlechter darauf einstellen, wer einem am Schachbrett gegenüber sitzen würde. Oft hatten die Heimmannschaften Spezialisten in ihren Reihen, die nur zuhause antraten. So auch mein Gegner an diesem Sonntagmittag. Er war schon fast 90. Er hatte also eine große Routine in den üblichen Eröffnungen, würde andererseits aber auf die Dauer eines Matches über sechs Stunden nachlassen, wenn die Stellung komplizierter wird. Vierzig Züge mussten in zwei Stunden gespielt werden, danach eine Stunde für jeden. Das Spiel einfach nur lange genug hinziehen! Mit dieser Überzeugung setzte ich mich ans Brett und wählte eine der schrägsten Eröffnungen überhaupt, die ich mir erst kurz zuvor angesehen hatte. Ich wusste also selbst noch nicht so genau, worauf es bei 1.g4 ankam. Aber für diese Aufgabe würde es reichen.
Die ersten sieben Züge liefen gut und ich merkte, dass er sich richtig reinhängen und Energie verschwenden musste, damit er damit klar kommt. Dann ließ ich zwei, drei mäßige Züge vom Stapel und das nutzte er wunderbar aus. So um den zwanzigsten Zug herum hatte ich es geschafft, mir eine astreine Verluststellung aufs Brett zu zaubern. Der Alte hatte gleich mehrere Drohungen zur Auswahl, meine Königsstellung war reich an Felderschwächen, eine meiner Figuren hing und ich hatte die Auswahl zwischen Cholera und Pest. Dann entdeckte ich einen Bauernzug, der die Sache retten könnte. Ich rechnete die Sache durch:
'Er kann dann auf jeden Fall die Figur nicht nehmen, sonst läuft er in einen Konter, den er nicht überlebt. Der Zug verstellt für ein wichtiges Tempo lang die Diagonale, die er zum Angriff nutzt. Er räumt außerdem ein wichtiges Feld für meinen Springer, der darüber in nur zwei Zügen voll in meinen Gegenangriff eingebunden ist. Es ist bei weitem der beste Zug, der hier zu finden ist. Perfekt'. Ich sah mir die Puppen nochmals an, überzeugte mich und führte dann den Zug in sicherer Gewissheit aus, dass sich das Blatt jetzt wendet, drückte dann die Schachuhr, so dass seine Zeit zu laufen begann und notierte mir den Zug. Als er dran war, sah ich mir das Brett nach dem ausgeführten Zug nochmal in Ruhe an und entdeckte nach nicht mal einer Minute, dass ich was übersehen hatte. Er verfügte über eine relativ einfache Erwiderung, die er auch finden würde. Jeder würde das finden, wenn er nur tief genug in die Stellung schaut. Nur ich Depp hatte es nicht gesehen. Ich sah auf die Uhr. Einundzwanzig Züge waren ausgeführt, nur eine knappe Stunde Bedenkzeit hatte er dafür gebraucht. Auf meiner Uhr stand bereits EinsDreißig.
Resigniert stand ich auf und trat in den Hof des Restaurants, in dem das Mannschaftsspiel stattfand, um Luft zu schnappen. Drei meiner Jungs standen zum Rauchen draußen und ich stellte mich dazu. „Wie läuft's“? fragte einer. „Vergiss es“, sagte ich. „Ich bin heute der erste, der verliert“. Nach etwa zehn Minuten ging ich zur Theke, orderte ein Pils und setzte mich zum Trinken auf den Barhocker. Wenn ich schon verliere, dann aber stilvoll, so dachte ich mir. Ich plauderte eine Weile mit dem Wirt und kehrte nach zwanzig Minuten in der festen Überzeugung zurück, von jetzt an ein bisschen Action auf das Brett zu zaubern, ich würde ja höchstens noch eine Viertelstunde für den Rest bis zur Zeitkontrolle haben – also ungefähr alle 45 Sekunden einen Zug ausführen müssen. Als ich mich wieder hinsetzte, hatte der Alte immer noch nicht gezogen. Seltsam, dachte ich. War die Entgegnung etwa doch nicht so leicht zu finden? Ich sah nochmal aufs Brett. Doch, das war sie. Ganz ohne Zweifel. Er hatte die Arme auf den Ellbogen aufgestützt und die Stirn tief in die Hände vergraben. Ich konnte seine Augen nicht sehen. Er schien sehr konzentriert zu grübeln. Vielleicht rechnete er sich bereits eine längere Zugfolge aus, die mich erledigen sollte und ich hätte es ihm nicht verübeln können. Die Uhr zeigte noch eine Differenz von zehn Minuten zu meinen Ungunsten an und ihm blieben also noch 40 Minuten für den Rest der Partie. Ein Kinderspiel bei dieser Stellung. Die war ja praktisch blind zu gewinnen.
Ich stand auf und ging nochmal zur Theke, um mich für die Zeitnotphase in Stimmung zu bringen. Während ich ab und an einen Schluck vom zweiten Bier nahm, riskierte ich einen Blick in den Spielsaal. Nichts geschah. Er saß einfach nur da und zog nicht. Es vergingen nochmals fünfundzwanzig Minuten, in denen ich mich mit auch mit den Brettstellungen meiner Kollegen beschäftigte. Was brütete er da nur aus? Dann endlich regte er sich – ich erkannte es sofort aus den Augenwinkeln und setzte mich wieder, in sicherer Erwartung des Zugs, den ich schon kannte. Und dann kam er auch. Er zog seinen König von g8 nach h8, entging damit jeder möglichen Fesselung, räumte g8 für seinen Turm, so dass mein geplantes Springermanöver keinen Sinn ergab und hielt die Spannung auf der langen Diagonale einfach aufrecht. Ich hingegen hatte kaum noch einen sinnvollen Zug. Das konnte man doch nach kurzem Hinsehen schon erkennen. Warum um alles in der Welt hatte er achtundfünfzig Minuten für diesen Zug gebraucht? Ich hatte jetzt noch dreißig Minuten für den Rest, er nur noch fünf. Unglaublich, dachte ich. Ich könnte es also doch noch schaffen, obwohl ich immer noch lieber mit seinen Figuren gespielt hätte. Die Stellung war einfach zu gut für ihn.
Ich entschloss mich, was ganz Subtiles zu ziehen, was mit dem Thema der Spielsituation gar nichts zu tun hatte. Erstens musste ich sowieso abwarten, bis er mich zusammenschob und zweitens gab es auch gar nichts, was mich hätte retten können. Aber mein Zug sah ganz schön komisch aus und das kostete ihn weitere drei Minuten. Dann war ich nochmal dran und bot ihm außer der ohnehin unrettbaren Figur eine zweite an, was ihn sichtlich überraschte. Das reichte, um ihn im 23. Zug über die Zeit zu heben. Ich hielt die Uhr an und sagte höflich aber bestimmt: „Entschuldigung, das Blättchen der Uhr ist gefallen, ich muss den Gewinn reklamieren“. Er sah mich an, dann die Schachuhr, dann alles um ihn herum, dann auf seine Armbanduhr und dann wieder zurück zu mir.
„Wie viele Züge haben wir gespielt?“„23“ „Wie viel Zeit hab ich verbraucht?“ „Zwei Stunden“ „Wie spät ist es?“ „Zwanzig vor sieben“ „Wann haben wir angefangen?“ „Um drei“.
Man konnte sehen, wie er versuchte, die Antworten in eine sinnvolle Reihe zu bringen. Er sah völlig entgeistert aus. Geradezu fassungslos sah er mich an, als ob ich ihn in eine Zeitmaschine gesetzt hätte. Es stellte sich schließlich heraus, dass er in völliger Gewinnstellung eine Stunde eingenickt war und niemand hatte es bemerkt, weil er über dem Brett tief zu grübeln schien. Wir versuchten es ihm zu erklären, aber er sah es nicht ein. Immer wieder schüttelte er unverständlich den Kopf, ließ eine Münze für den Kaffee da und stiefelte dann nach Hause. Ich stellte die Figuren zurück in die Grundstellung und pustete durch. Dass ich gerade völlig vom Glück beschienen wurde, hellte meine Stimmung nicht auf. Ich ärgerte mich über meine eigene Einschätzung vor dem Spiel, erhielt unverdient einen vollen Punkt und das auch noch, weil der arme Kerl einfach einschlief, was ihm mit Sicherheit auch noch nie passiert war. Vielleicht gibt es doch noch andere Dinge als Schach, die ich besser kann, dachte ich.
*************