Einer meiner Lieblingsfilme beginnt damit, dass Bruno Ganz als Engel auf der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche steht und auf Berlin herab blickt. Er schaut sich an, wie die Berliner durch die Straßen gehen, Ampeln überqueren, wie ein Vater auf dem Fahrrad fährt, seinen Sohn im Gepäckkindersitz dabei, wie ein Bus den Tauentzien runterfährt, die Züge den Bahnhof Zoo queren und die Autos über den Stadtring fahren. Lauter kleine Szenen aus dem Alltag Berlins, die jeder sofort zuordnen kann, der hier lebt. Später gesellt sich ein zweiter Engel, gespielt von Otto Sander, hinzu. Sie reden ein bisschen über die Menschen der Stadt und gesellen sich dann ihrem Treiben hinzu, sitzen in einem Auto eines Gebrauchtwarenhändlers, besuchen eine Zirkusvorstellung, sitzen im Lesesaal der Staatsbibliothek, gehen in Konzerte oder sprechen in zufällig entdeckten Szenen den Berlinern Mut zu, wenn sie ihn brauchen. Später verliebt sich einer der Engel in eine Akrobatin. Nur Kinder können die beiden Engel sehen. Für Erwachsene sind sie unsichtbar und sie haben eine Mission, die sie zu Lebzeiten nicht erfüllten. Es ist ein wunderbarer Film. Womöglich gehört er zu den besten Werken aller Zeiten, aber was mich besonders an ihm anspricht, ist die Detailgenauigkeit, mit der er Berlin (West) zeichnet und jedes Mal, wenn ich ihn mir ansehe, erlangt er für mich einen noch höheren Stellenwert, seitdem ich selber einer geworden bin: Ein Berliner. Der Film ist eine Liebeserklärung an Berlin und wer die Stadt verstehen will, sollte ihn sich ansehen.
Oft, wenn ich am großen Stern vorbeifahre, tue ich etwas, was andere Autofahrer nicht tun. Ich beuge mich nach vorn und schaue nach oben zum Rand der Windschutzscheibe, um den Kopf der Goldelse auf der Siegessäule zu sehen. Nur um zu kontrollieren, ob nicht doch irgendwann mal ein Engel da oben drauf steht. Es sind die kleinen Begegnungen mit der Stadt in der ich lebe, die mich an den Film erinnern. Wenn ich in Friedenau die S-Bahn verlasse, dann gibt es diesen kleinen Platz, bevor die Straßen mit den alten Wohnhäusern beginnen. Er ist gerade groß genug, um eine Parkbank, einen Baum und die Stühle und Tische von zwei Cafés einzurahmen, aber jedes Mal wenn ich mir ihn, dem alten Eingang der S-Bahn zugewandt betrachte, dann weiß ich, dass es diesen Platz nur hier gibt – nirgendwo sonst auf der Welt. Die Currywurstbuden in unserer Stadt sehen meist so aus, als ob an ihnen seit dreißig Jahren nichts mehr renoviert wurde. Und die Gäste davor auch. Hier gibt es Demos, die am Kottbusser Tor starten, dem Kotti, wie das schlesische Tor der Schlesi, der Kurt-Schumacher-Platz der Kutschi und der Görlitzer Bahnhof der Görli heißt, die beginnen erst mal mit einer Runde Fußpils in den Händen des schwarzen Blocks, während sie sich mit den begleitenden Polizisten über die Route und die Hotspots besprechen. Es gibt sogar einen Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf.
Jeden letzten Freitag im Monat ist Critical Mass. Begonnen als Demonstration für den Fahrradverkehr, kreuzen Hunderte, im Sommer eher Tausende von Radfahrern im Verbund durch die Straßen, inzwischen als Event mit viel Musik, viel Licht und natürlich bester Versorgung. Samstags gehe ich gern durch die Antiquariate. Gut ein Dutzend unter vielleicht hundert in der Stadt, hab' ich mir als meine Lieblingsbibliotheken gemerkt. In ihnen gibt es oft Bildbände aus den Siebzigern und Achtzigern, mit denen ich in die Zeiten von 'Himmel über Berlin' abtauchen kann. Berlin verändert sich ständig. Aber wenn man hier lebt, merkt man das kaum. Dazu muss man aus der Stadt raus und in einem Abstand von vielleicht fünf Jahren immer mal wiederkehren. Lebt man in Berlin, bleibt die Stadt immer gleich. Ein einzigartiges Phänomen. Am Rathenau-Platz stehen immer noch die einbetonierten Cadillacs von vor fast dreißig Jahren. Im Prenzlauer Berg steht an den Kneipen immer noch „Molle und Korn“ auf der Außentür.
Am Hermannplatz auszusteigen und sich mal zehn Minuten in die Mitte des Platzes zu stellen und nichts zu tun, außer dem Treiben rundherum zuzusehen, ist zeitlos. Solange ich ihn kenne, wird er auf der einen Seite von Karstadt flankiert, auf der gegenüber liegenden Seite von einer Häuserreihe und an den schmalen Enden von jeweils einer Kreuzung mit tosendem, aber berlinerisch typischem Verkehr. Und auf dem Platz immer was los. Leute, die ihre Einkaufstüten nach Hause schleppen, Buden mit stets wechselndem Angebot, Massen an geparkten Fahrrädern und irgendwer handelt immer mit irgendwas. Der Zauberkönig in der Karl-Marx-Straße, der Richardplatz, die Alt-Berliner Eck- und Raucherkneipen in Neukölln, all das scheint einfach unzerstörbar. Natürlich ändert sich der Kiez. Aber nur, wenn Du 'ne Zeitlang weg warst. Sonst bleibt alles gleich. Die ganze Schloßstraße runter vom Walter-Schreiber-Platz über den Bierpinsel bis zum Steglitzer Kreisel: Ein getreues Abbild der Neunziger und das wiederum eins der Achtziger. Die Hochbahnen fahren die immer gleichen Kurven durch die Stadt und sogar die Mauer – sie steht immer noch da. An manchen Stellen ist sie unsichtbar und kann nur von über Vierzigjährigen gesehen werden. Für Kinder ist sie nicht erkennbar. Noch nicht.
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