Neulich sah ich mir den „goldenen Handschuh“ an. Ein Film über den Psychopathen Honka, der in den 70ern mehrere Frauen kalt machte, um sie dann in Einzelteilen in die Gauben seiner Dachstube zu stopfen. Vermutlich war ihm das Rausschleppen der Leichenteile zu mühsam. Das erinnerte mich schlagartig an alte Zeiten. Nicht etwa, dass ich dazu neigte, irgendwem Gewalt anzutun. Ich kann mich auch sonst an niemanden erinnern, dessen Hobby das Zersägen von Frauenkörpern gewesen sei. Aber das Leben im „Goldenen Handschuh“, einer Kiezkneipe in Hamburg, einem Vorhof zur Trunksucht-Hölle – sowas kannte ich. Es gab in unserer kleinen Stadt nicht viele Siffons zum Auffangen des Nachtlebens. Vor allem gab es bei uns eine Sperrstunde um ein Uhr nachts und wer seine Kneipe nach halb zwei noch offen hatte, bekam massiven Ärger, sobald das jemand anzeigte. Aber es gab Ausnahmen mit Genehmigung zum Nachtbetrieb, die keine Puffs waren. Zwei davon lagen in meinem Viertel, keine zweihundert Meter voneinander entfernt. Und wer dort nachts rumhing, konnte mit den Gestalten im Handschuh locker mithalten. Das Epizentrum hatte den klangvollen Namen „Hinkelsnest“, weil es bis spät in die Nacht frisch gebratene Hähnchen gab, die standardmäßig mit Pommes und Beilagensalat daher kamen. Sie hatten einen riesigen Wandgrill, wo sich die Goldbroiler um die Wette drehten. Allein das war schon eine Attraktion – wenn man besoffen an der Theke hing und niemanden zum Reden hatte.
Die Kneipe nebenan hieß Karlsberg-Eck. Weil es eine Eckkneipe war und das Bier von Karlsberg war. Keine Selbstverständlichkeit übrigens, denn die Bierkultur im Land war damals noch vielseitig und an fast jeder Kneipe gab es Bierschilder anderer Marken. In den 60ern hatten noch beide Kneipen rund um die Uhr auf, nur für eine Stunde war wegen Kneipen-Putz geschlossen. In den 80ern, mit immer weniger Schichtarbeitern in den Hüttenwerken, teilten sie sich die Nacht. Während das Hinkelsnest um Vier die Schotten dicht machte (also Fünf, bis der Letzte draußen war), öffnete das Eck um Fünf. So war das Rund-um-die Uhr-Saufen problemlos gewährleistet. Wenn man es gut genug timte, das Schwanken mit eingerechnet, kam man genau unten an, wenn Gerda die Türen aufschloss. Gerda war die Wirtin und gleichzeitig die Sensation des Ecks. Seit vierzig Jahren schmiss sie die Kneipe und wenn es jemanden gab, der in seinem Kneipenleben schon alles gesehen hatte, dann war sie es. Sie war riesig, in jeder Dimension und alle hatten großen Respekt vor ihr. Ihre Brüste, die vermutlich BH-Spezialanfertigungen erforderten, trug sie wie Trophäen vor sich her und ihr morgens bei der Arbeit zuzusehen, war eine Attraktion.
Gegen halb Vier läutete der Wirt im Nest die letzte Runde ein, was ungefähr bedeutete, dass man gegen halb fünf den letzten Kurzen kriegte und wenn die Gemeinde dann runter zum Eck zog, gesellte sich die Frühschicht vom Hüttenwerk dazu, so dass es vor der Tür des Karlsberg-Ecks stets zu einer bunten Mischung aus Frühaufstehern und Nachteulen führte, bevor Gerda die Schleusen öffnete und ihre riesigen Brüste kreisen ließ. Dazu baute sie ungefähr zwanzig Bierbecher vor dem Zapfhahn auf, öffnete den Hahn, umarmte die Gläser und schob sie mit ihrem Busen in einer kreisenden Bewegung allesamt solange unterm Hahn hin und her, bis sie zu Dreiviertel voll waren. Dann kam jeweils die Krone drauf und die Gläser flogen wie im Western über die Theke, wo sich einer nach dem anderen das erste Bier abholte. Auf diese Weise schaffte sie die Erstversorgung in weniger als fünf Minuten.
Es gab in beiden Kneipen eine ganze Reihe von lebendem Inventar. Manche davon traf man nur im Nest, manche davon nur im Eck und manche davon waren Stammgäste in beiden Millieus. Zauber-Harry beispielsweise saß nur im Nest an der Theke. Das hing mit seinem Trinktempo zusammen. Er kam immer so um Mitternacht, brauchte etwa acht bis zehn Export zum Auftauen und sprach dann, wer immer neben ihm saß, damit an, dass er ein großer Zauberer sei. Mir hatte er die Geschichte, dass er damals beim großen Roncalli arbeitete, aber durch einen gemeinen Trick eines Konkurrenten gehen musste, mindestens vier Mal erzählt. Das wiederum lag daran, dass er anderntags vergessen hatte, wem er war erzählte. Jedenfalls, irgendwann in der Nacht war es soweit und Zauber-Harry packte eine Reihe von Tricks aus, die größtenteils was mit Hüten, Gläsern und Kartenspielen zu tun hatten, wobei er sich mit den Karten mehrmals verspielte. Er war gut, aber er war halt besoffen. Wir taten dann immer so, als wenn wir die Tricks zum ersten Mal sahen und begleiteten ihn mit allerlei Ahs und Ohs. Das Problem mit Zauber-Harry war, dass es immer nur ein kleines Zeitfenster, gewöhnlich zwischen Zwei und halb Drei gab, in dem die Tricks halbwegs funktionierten. Dann ging es rapide bergab, bis man gar nicht mehr verstand, was er eigentlich zaubern wollte.
Eines Nachts beobachtete ich ein Pärchen, das lautstark rumstritt. Beide hatten ihr Hähnchen mit einem Berg Pommes vor sich und soweit ich mich erinnere, ging es irgendwie darum, dass er seinen Kumpel zum Essen eingeladen hatte und die beiden zuhause den Kühlschrank geplündert hatten, wo was drinstand, was sie wiederum für sich und ihre Freundin vorgesehen hatte. Seine Hauptverteidigungsstrategie bestand darin, dass er sie ja jetzt zum Essen einlädt und so wenigstens Drei von Vier satt werden, während sie sagte, dass sei ja auch kein Wunder, nachdem er jetzt doppelt und für ihre Freundin mitgefuttert hatte. Auf alle Fälle eskalierte der Streit und ich war gerade dabei, Zauber-Harry zuzusehen, als irgendwo hinter mir ein ganzer Tisch mitsamt allem Geschirr und Gläsern umkippte und der Typ an uns schreiend vorbei lief, seine blutige Hand hochhielt und uns zeigte, zu was seine Braut im Zorn fähig war. Sie hatte ihm tatsächlich einen Teil seines Fingers abgebissen, der jetzt schräg von der Hand runterhing und er blutete wie wahnsinnig. Als die beiden draußen waren, wischte der Wirt hinter der Blutlache her, wir halfen ihm mit dem Tisch, den Stühlen und dem Geschirr und weiter ging‘s.
Es gab viele Taxifahrer unterm Nachtvolk. Sie tranken sich den Frust ihrer Schicht von der Seele und gaben allerlei gute Geschichten zum besten. Man lernte auch alle Huren kennen, die sich hier aufwärmten oder Feierabend hatten, weil keine Freier mehr kamen. Manchmal sah man die ein oder andere am Tisch einschlafen. Man konnte richtig zusehen, wie der Kopf immer schwerer wurde und dann saßen sie da mit dem Kopf auf der Tischplatte, den Cognac stets noch halbvoll, damit sie nichts weiter ordern mussten. Dann gab es noch Boxer-Bert, der eigentlich Bernado hieß. Er war der jüngste Bruder von vier italienischen Einwanderern und während seine Brüder irgendwas mit Pizza, Eis oder Fließband machten, hatte er Mitte Zwanzig was mit Boxen los und hielt an seinem Traum fest, eines Tages ganz groß raus zu kommen. Das Problem mit Boxer-Bert bestand darin, dass er mittlerweile Mitte Vierzig war und das immer noch glaubte. Boxer-Bert hatte so viele Nasenbrüche hinter sich, dass er so aussah, als hätte man ihm eine unförmige Kartoffel ins Gesicht geklebt, die gerade anfing, zu vergammeln. Außerdem war er höchstens Einssechzig klein und so konnte man ihn leicht übersehen, wenn die Sperrstunde in den anderen Kneipen endete dazu führte, dass sich alles an der Theke drängelte. Man kam gut mit ihm klar, solange man über irgendwas Belangloses sprach. Aber sobald er mit seiner Knolle auch nur im entferntesten ein Thema roch, was mit Männlichkeit, Körpergröße oder Erfolg zu tun hatte, war es vorbei. Gewöhnlich saß er einfach klein und gedrungen da, starrte Bier und Korn vor sich an und hielt die Klappe. Aber wenn ihn jemand versehentlich schubste oder eine unbedachte Bemerkung seinen Stolz ankratzte, wurde das schnell zu einer explosiven Mischung. Ich warnte so manchen Unbedarften vor ihm, aber das hinderte ihn selten daran, nach einer kurzen und heftigen Ansprache, völlig unvermittelt seine linke Gerade fliegen zu lassen. Dann gab es dort noch „Flasche“, weil er immer nur aus Flaschen soff, Patiencen-Tina, die immer nur Karten legte und nie etwas sagte, Billy, weil er immer Billiard spielen wollte und mindestens siebzehn weitere Gestalten, die man dort regelmäßig traf.
Im Eck waren gegen Sechs die Jungs aus dem Hüttenwerk nebenan wieder weg und als der Morgen begann, störendes Tageslicht einzustreuen, dünnte sich das Volk nach und nach aus. Gegen halb acht stand nur noch die Frage im Raum, ob ich jetzt sofort oder erst nach dem Schlafen frühstücke. Die Kneipe sah jetzt aus wie jede andere auch. Ich zahlte und trat auf die Straße. Draußen saß in jedem einzelnen Auto jeweils einer drin, der sich zur Arbeit staute. Es sah sehr unwirklich aus.
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