Carmela

Es muss im Fahrstuhl und früh morgens gewesen sein, als ich sie kennenlernte, denn ich erinnerte mich nicht mehr dran. Jedenfalls erzählte sie mir das. Wir wohnten in diesem riesigen Wohnblock in der selben Etage, es war die Vierte, und ihr Zimmer war ganz vorn in der Ecke. Alle Zimmer waren gleich groß. Mehr als mickrige zwölf Quadratmeter und einen kleinen Eingangsbereich für Garderobe und Waschbecken gaben sie nicht her. In meinem stand eins von diesen meterbreiten in Holz gerahmten Standardbetten, ein Schrank für die Klamotten, ein Stuhl, ein Tisch und meine Musikanlage. In ihrem stand das gleiche Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl und ein Fernseher. Fünfzehn Zimmer waren es auf jedem Flur, ein paar Klos und Duschen, eine Gemeinschaftsküche in jeder der zehn Etagen. Bis auf wenige Ausnahmen wohnten ein Dutzend von uns Zivis im Wohnheim und in den restlichen hundert Zimmern Schwestern-Schülerinnen, so wie es Carmela eine war.

Der Dienst im Krankenhaus ging von Sechs bis Zwei oder von Zwei bis Zehn, zu Nachtschichten mussten wir nicht antreten. Die ersten zwei bis drei Stunden im Frühdienst war ich nicht ansprechbar, ich wachte immer erst zur Frühstückspause auf, also konnte das schon sein mit dem Fahrstuhl. Carmela hatte lustige, schwarze Locken und funkelnde Augen, wenn sie sprach. Sie war Sizilianerin und vielleicht war sie nicht die Hübscheste von allen, aber sie war die mit Abstand Fröhlichste – und das machte sie attraktiv. Wann immer ich sie traf, lächelte sie mich an und ich fühlte mich von ihr wie magisch angezogen. Es machte mich einfach glücklich, wenn sie um mich herum war, wenn wir gemeinsam kochten oder wenn wir miteinander redeten und scherzten. Sie lachte ein lautes, herzhaftes Lachen, das ich liebte, aber sie konnte auch fluchen, wie es keiner von uns Jungs fertigbrachte. Ihre Eltern waren mit drei Töchtern hierher ausgewandert und das vierte Kind, wieder ein Mädchen, wurde hier geboren. Carmela war die Älteste und sah es als ihre Pflicht an, die Jüngste zu beschützen und so oft wie möglich Zeit mit ihr zu verbringen. Ich hatte nach dem Dienst ständig was anderes zu tun, aber wenn Carmela nicht da war, dann weil sie Zeit mit ihrer kleinen Schwester verbrachte.

Ihr Vater hatte eine dieser typisch italienischen Eisdielen hier eröffnet und als sie sich nach Jahren einen richtig guten Eiswagen leisten konnten, bekam Carmela den alten, ausgedienten VW-Bus. Damit machten wir gemeinsam Ausflüge, einmal auch bis Paris und als ich den Bulli nachts zurück fuhr und mich mit ein paar Bieren über Wasser hielt, schlief sie auf dem Boden die ganze Fahrt über durch zwischen den leeren Glasflaschen, die um sie herum schepperten und inmitten ihrer philosophischen Bücher. Sie las Kant und Schopenhauer und Voltaire und wir führten endlose, philosophische Gespräche über alles Mögliche. Und dann gab es da noch unser Lieblingsritual am Sonntagmorgen, wenn ich gegen Zehn zu ihr rüberkam. Dann kuschelten wir uns unter ihrer Decke ein und schauten uns ‚Janoschs Traumstunde‘ im Kinderfernsehen an. Kurzum, ich hatte mich sehr verliebt in sie, aber es kam nie dazu, dass wir ein Paar wurden. Ich hatte andere Geschichten am laufen und wir wussten, dass es uns in Schwierigkeiten bringen würde.

Dann lernte sie einen kennen und noch bevor unser glückliches, gemeinsames Jahr zu Ende war, war sie schwanger von ihm. Aber das erzählte sie mir nicht, sie erzählte es niemandem. Nicht mir, nicht ihrer Freundin und schon gar nicht ihren katholischen Eltern, die es als Schande für ihre Familie und für alle ihre Verwandten ansahen, wenn sie von einem Kerl schwanger wurde, den sie nicht heiraten würde. All das erfuhr ich erst sehr viel später, weil sie einfach nicht drüber redete. Sie las diese ganzen Philosophen und konnte debattieren wie ein Profi, sie war mit ihren 23 Jahren die aufgeklärteste und schlaueste Person, die ich bis dahin kennenlernte, aber sie brachte es nicht fertig, ihrem sizilianischen Patrone beizubringen, dass sie schwanger war. Von einem Kerl, der das Kind nicht wollte. Was sie stattdessen tat, war, sich alleine samstags nachts in ihrem kleinen Zimmer im vierten Stock eine halbe Flasche Cognac hinter die Rüstung zu gießen, dann mit dem Aufzug in den Zehnten zu fahren und mit einem beherzten Sprung übers Geländer in den Tod zu springen.

Es gab keinen Abschiedsbrief. Sie ließ ihre geliebte, kleine Schwester einfach zurück. Und ich bin auch nie wirklich drüber weggekommen, weil ich oft dran dachte, was aus uns geworden wäre und warum ich sie nicht retten konnte. Als ich anderntags zur Stelle kam, wo sie auf den Rasen aufgeschlagen war, sah ich mir die Kuhle an, die ihr Körper hinterlassen hatte. Ich legte mich zu ihr rein, so gut es eben ging, strich über das getrocknete Blut im Gras und versuchte zu fühlen, ob noch irgendwas von ihr übrig war. Während ich weinte, spielte jemand Querflöte aus einem der offenen Fenster.

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Carmela im Gedicht: Nachruf auf ein Klasseweib
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