Bis dann; Horst!

Ein Nachruf.

Ich sah Horst früher schon mal irgendwo in einer Kneipe, bevor er in unserem Club hängen blieb. Schon aufgrund seiner Präsenz – ein dicker, großer, bärtiger Kerl – fiel er unter den anderen Spielern auf und außerdem war er einfach laut beim Spielen. Er verhielt sich grundsätzlich anders als alle anderen Schachspieler, die ich kannte. Es gab unter uns solche Grübler wie mich, die immer bis zuletzt daran zweifelten, ob der ausgeführte Zug tatsächlich die beste Wahl ist. Es gab auch Denktypen, die immer nur die einfachen Züge machten, weil ihnen die komplizierten Verwicklungen zu viel Zeit und Mühe kosteten und oft genug führte das zum Erfolg. Und es gab Horst. Er schmetterte jede Figur aufs Brett, hämmerte auf die Schachuhr und kommentierte das auch noch lautstark. Horst war bekannt und bei den Wirten gefürchtet, weil er beim Schachspielen die ganze Kneipe unterhielt. Aber dann fand er irgendwann zu uns und weil es bei uns sowieso mehr um alles andere als um Konzentration beim Spielen ging, fühlte er sich wohl bei uns. Wenn ich abends zum Schachspielen rein kam, musste ich mich nie nach ihm umsehen. Schon beim Aufziehen der Kneipentür war er lautstark zu hören, wie er die Figuren aufs Brett knallte. „Hier, nimm das!“, röhrte er. Aber er schaute trotzdem kurz über den Rand seiner Nickelbrille zur Tür hin, zog seine Dackelfalten zur Begrüßung kraus und wandte sich dann wieder dem Brett zu.

Horst spielte nur Blitzschach, weil ihm alles andere zu wenig Action war. Je weniger Zeit vereinbart war, umso besser. Und Horst war schnell. Gemessen an seiner tatsächlichen Spielstärke zog er enorm präzise und er hatte nie Zweifel an der Auswahl seiner Züge. Es gab für ihn in jeder Stellung nur einen Kandidatenzug und den wählte er auch. Fünf Minuten Blitzschach waren für ihn eine unendlich lange Zeit, in der er sich oft sichtbar langweilte. Zwei Minuten pro Partie hielt er für angemessen und je später es wurde, desto weniger Bedenkzeit schlug er vor. Und es war lustig, ihm zuzusehen, weil er laut kommentierte, was er sah. Seine tiefe, durchdringende laute Stimme setzte sich quasi gegen jede andere Lärmquelle deutlich durch. Wenn ihm jemand was Unerwartetes vorsetzte, rief er: „Und DAS ziehst du gegen mich, den Viehmäßigen?“. Viehmäßig. Das war genau das Wort, dass ihn am besten beschrieb. Horst war stark wie ein Vieh. Unerschütterlich im Glauben an sich selbst. Und schneller als jede Maschine.

Aber eine Maschine mit Schwächen. Am Schachbrett fühlte er sich unbesiegbar. Aber das war er natürlich nicht. Seine markanteste Schwäche war, dass er süchtig nach diesem Schnellspielen war. Er konnte einfach nicht ohne Blitzschach gesellig sein oder sonstwie seine Zeit verbringen. Nur dieses Ziehen in Hochgeschwindigkeit und die Sucht nach dem Gewinnen damit, brachte ihn durch den Abend und oft genug auch durch die Nacht. Wenn die Kneipe schloss und wir Horst fragten, ob er mit uns weiterziehen wollte, dann kam er nur mit, wenn es dort auch einen Schachsatz gab. Ich verbrachte damals unzählige Nächte damit, um die Häuser zu ziehen, aber auch Dutzende damit, ihm morgens um Vier dabei zuzusehen, wie er auf die Schachuhr hämmerte. „Remis?“ fragte der Gegner. „WIE REMIS? Das würdest Du doch überall herum erzählen“, dröhnte er. Seine Sucht nach dem Gewinnen war so groß, dass er Niederlagen einfach ignorierte und selbst dabei war er ironisch lustig. So verbissen er darauf war, Vorteile zu erspielen und innerhalb von nur zwei Minuten eine Partie zu gewinnen, so überraschend lässig kommentierte er auch, wenn er mal verlor: „Ich muss es knapp aussehen lassen“, rief er, „wenn ich immer hoch gewinne, würdest du nicht mehr mit zum Spielen kommen“.

Seine Sucht kostete ihn schließlich auch sein ganzes Vermögen. Auch wenn er das nie zugegeben hätte. Er besaß eine große Firma, die Heizungen baute und ein ziemlich imposantes Bürogebäude, in dem er ein Penthouse im obersten Stockwerk bezogen hatte. Es waren die Zeiten, in denen jede Firma gerade erst damit begann, Internetseiten zu bauen und ich sollte ihm dabei helfen. Ich sah es als ernsthaften Job, aber als ich zu ihm kam, um die Sache zu besprechen, führte er mir über Stunden vor, mit welcher Variante er gegen die Schachsoftware gewann. Das war zweifelsfrei erstaunlich, weil das Programm auf höchster Stufe schon nahe am Niveau des Weltmeisters spielte, aber es hatte nichts mit dem Auftrag zu tun, den ich hatte. Entweder war ihm das Spielen wichtiger als seine Existenz oder es war ein verdammt guter Fluchtort für alle Sorgen, dachte ich.

Eine zweite Schwäche war, dass er gerne um Geld spielte, aber das war im Verhältnis zum verlorenen Vermögen nicht viel. Gegen Spieler seines Niveaus gewann er gern, aber wir vermieden es auch, Kohle gegen ihn zu setzen. Aber er finanzierte so manchen stärkeren Schachspieler, weil er ihnen Konditionen anbot, die für ihn zu ungünstig waren. Es sah mehr danach aus, als ob er die Meister dafür bezahlte, dass sie gegen ihn gewannen. Eines Nachts an der Theke, als mir das Geld fürs Bezahlen ausging, bot er mir ’nen Zwanziger, wenn ich gegen ihn mit fünf gegen zwei Minuten Bedenkzeit gewinne. Ich nahm die Wette damals an und gewann auch, aber ich fühlte mich schlecht dabei, weil es sich anfühlte, als würde ich eine Drogensucht auszunutzen. Dabei soff er nicht mal. Ich meine, ich kenne eine Menge Spezialisten, die erst mit Alkohol oder Koks zu unfassbaren Höchstleistungen auflaufen. Nach einer durchzechten Nacht, während ich mit dem Wirt schon um Rabatte feilschte, hatte Horst nie mehr als zwei Bier auf der Rechnung. Er trank Cola, er trank Kaffee oder Wasser, aber er war ohne Alkohol unterhaltsamer als jeder Clown auf Speed.

Als er später auch damit begann, Partien mit Turnierbedenkzeit zu spielen, da war er seinen 5er BMW und seine Heizungsbaufirma längst los, aber ich fand, das Langsamspielen entzauberte ihn irgendwie. Er hatte keine Geduld, in einer Mannschaft zu spielen und sich durch stundenlange Begegnungen zu quälen. Am Ende verlor er Partien gegen mittelmäßige Spieler, die ihre zwei Stunden Bedenkzeit ausschöpften, während seine Uhr fünf Minuten anzeigte. Aber was das Sprüche klopfen anging, da machte ihm so schnell immer keiner was vor. Der Mannschaftskampf war in vollem Gang und seit neunzig Minuten sprach keiner ein Wort, die Stellungen auf den acht Brettern waren komplex und es war völlig unklar, wohin die Reise ging – da entdeckte Horst eine bildschöne Kreuzfesselung und gewann entscheidend Material damit. Wahrscheinlich hätte er die auch mit nur einer Minute Bedenkzeit gefunden, auf jeden Fall donnerte er auf die Schachuhr und fragte den Gegner lautstark: „Du spielst noch nicht so lange Schach, oder?“

Bis irgendwann mal, Horst.

*
*
*
*************
*

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert