Shanghai. Vier Uhr nachmittags. Abends um 11 würde mein Flieger vom Airport Pudong starten. Sieben Stunden Zeit. Aber ich musste unbedingt noch in diesen Laden mit den Filmen und CDs. Verdammt gute Kopien. Selbst die Hüllen samt Prägeschriften und den Covertexten waren von den Originalen nicht zu unterscheiden. Die Adresse hatte mir jemand auf Chinesisch notiert, denn so groß Shanghai mit seinen 15 bis 20 Millionen auch war – man traf fast niemanden, der englisch sprach. Ich hatte die Papiere zum Abflug bereit, die Hotelrechnung bezahlt, den Namen der Bahnstation für den Transrapid zum Pudong auf Chinesisch notiert. Der Zeitplan war absolut wasserdicht und nichts ließ auf das Drama schließen, das nun folgen sollte.
Halb Fünf. Der Bus brachte mich hin und ich stürzte mich ins Film- und Musikparadies. Als ich schon zehn Filme im Einkaufswagen hatte, entdeckte ich die Spezialausgabe des Paten, mit allen drei Teilen, zwei dokumentarischen DVDs und der zugehörigen Filmmusik. Kurze Zeit später fand ich eine Hitchcock-Filmbox mit der Krimireihe aus den 60ern, die er für die BBC inszenierte – alle fünfundfünfzig Folgen. Bei den Konzertfilmen sackte ich anschließend Pink Floyds „The Wall“ live in London, sowie die Voodoo-Lounge-Tour der Stones in Japan ein, bevor ich die französische Spezialabteilung mit den Neuauflagen der Film-Noir-Reihen durchforstete. Dann widmete ich mich den CDs und kam mit fast fünfzig Scheiben zur Kasse zurück, für die ich umgerechnet lächerliche 90 Euro hinblätterte. Alles lief nach Plan, außer dass mich die „Einsatz-in-Manhattan“-Staffel zu viel Zeit kostete, nachdem ich die 70er-Jahre-Serien fand.
Halb Sieben stieg ich in den Bus und der Fahrer quälte sich durch die Rush Hour, die jetzt schlagartig einsetzte. Es war der falsche Bus. Das merkte ich aber erst nach Ewigkeiten, als wir eine Autobahn kreuzten, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Ich zeigte dem Mann neben mir meinen Zettel und versuchte, locker zu bleiben wegen des Zeitpuffers, aber es wollte mir jetzt nicht mehr so recht gelingen. Der Typ sagte was auf chinesisch, zeigte den Zettel der Nachbarin und beide riefen aufgeregt durcheinander und deuteten jeweils in eine komplett andere Himmelsrichtung. Ich drückte den Knopf, sprang raus und sah ich mich nach einem Taxi um. In Shanghai fährt jede Minute eins an dir vorbei. Wirklich immer. Nur eben jetzt nicht. Ich stand mit meiner Tasche voll Filmen und Musik am Straßenrand und begann mir durchzurechnen, wie teuer der Einkauf werden würde, wenn die Pechsträhne jetzt anhielt. Dann hielt endlich eins an und ich zeigte dem Fahrer den Hotelzettel. Er nickte und fuhr los. Ich betrachtete mir den Zettel mit den komischen Zeichen drauf und hoffte, dass es der richtige war und mir der Hotelangestellte nicht den Namen der Zentrale in Peking notiert hatte.
Zwanzig nach Acht. Ich deutete dem Fahrer an, kurz zu warten. Dann sprintete ich in die Hotel-Lobby, verlangte nach meinem Koffer und begann, die Beute rein zu stopfen, was mir nur schwerlich gelang. Es war einfach zu viel Material. Wenn ich es jetzt bis Neun zum Transrapid schaffen würde, wäre noch alles im Lot. Der Transrapid, der hier „Maglev“ hieß, bräuchte mit seinen 300 Sachen keine zwanzig Minuten direkt zum Airport – also kein Grund zur Panik, sagte ich mir! Ich deutete dem Taxifahrer mit einem Fingerzeig auf meine nicht vorhandene Uhr an, dass ich es eilig hatte und er trat drauf, wurde aber dann auf der Autobahnbrücke über den Huangpu Fluss gebremst, der die Stadt in zwei Hälften teilt. Es war einfach zu viel Verkehr. So sah es hier jeden Abend aus und das hätte ich wissen können. Ich sah mir von der Brücke aus die Millionen von Lichtern an. Niemand von denen wird es kümmern, wenn ich heute Nacht vor ihrer Tür liegen würde, den Koffer voller Musik und Filme vom Allerfeinsten, aber pleite und ohne Rückflugticket. Dann endlich waren wir da. Ich zahlte das Taxi und hechtete zur Bahnstation die Rolltreppe hoch, die seltsamer Weise stillstand. „Was soll das“?, dachte ich mir noch, als ich Koffer und Handgepäck die Stufen hoch wuchtete.
90 Minuten bis zum Abflug. Oben angekommen fiel mir als erstes auf, dass die Station völlig unbeleuchtet war. Es deutete nichts darauf hin, dass hier gleich ein dreihundert Kmh schnelles Geschoss einfahren würde. In der Ecke stand eine kleine Chinesin in Uniform. „Hey“, rief ich auf englisch, „Was ist mit dem Maglev? Sag mir bitte nicht, dass eine 20-Millionen-Metropole abends um Neun den Zugverkehr einstellt“! „No Maglev“, sagte sie, als ob es selbstverständlicher nicht sein könnte. „No Maglev??“, schrie ich zurück. „No Maglev“, sagte sie jetzt wieder. Ich wollte gerade anfangen, so richtig loszufluchen, aber es kam jetzt auf jede Sekunde an. Also rannte ich, nein ich flog geradezu, die stillstehende Rolltreppe wieder runter und auf den Taxistand zu, riss einem beliebigen Taxi die hintere Tür auf, schmiss meinen Koffer rein und sprang dann auf den Beifahrerersitz, wo mich ein sichtlich überraschter Fahrer ansah. „PUDONG!“ rief ich dem Fahrer den Namen des Airports zu, „PUDONG!“. Er sah mich an und ich merkte, dass er mich nicht verstanden hatte. Ich breitete die Arme aus, ahmte ein Motorengeräusch nach und schwenkte im Sitz hin und her. „AH. PUDONG“ rief er aus. Ich sah ihn an. „PUDONG“ wiederholte ich. „AH, PUDONG“, sagte er. Ich deutete wieder auf meine nicht vorhandene Uhr. „FAST“, rief ich. „PUDONG. FAST“. „AH“, sagte er wieder. Dann startete er die Karre und fuhr los.
Zehn Uhr. Es war ein ungefähr zwanzig Jahre alter Passat, mit dem wir schließlich auf die Autobahn kurvten, der Km-Zähler zeigte irgendwas jenseits der 600.000 an und genau so verhielt sich die Schüssel auch, wenn er Gas gab. Aber er hatte den Auftrag verstanden. Er schaffte 140, wofür er rund eine Minute brauchte, und bremste bei jedem Blitzgerät wieder auf 80 runter. In diesem Intervall ging es die kompletten 45 Minuten und kurz vorm Flughafen kam ich auf die glänzende Idee, das Ticket danach abzusuchen, ob ein Terminal draufstand. Genau im letzten Moment, als die richtige Abfahrt angezeigt wurde, schrie ich dem Fahrer „RAUS“ zu, was er seltsamer Weise verstand und er schaukelte die Karre über reichlich Bodenschwellen auf die Ebene mit den Abfahrten hoch, wo er sie genau vor dem Lufthansa-Schalter zum Stehen brachte. Ich gab ihm ein fürstliches Trinkgeld und flog samt Koffer auf den Schalter zu, der fast so traurig und unbeleuchtet aussah, wie zuvor die Bahn-Station.
22:45. Es waren jetzt noch genau zwanzig Minuten bis zum Abflug. Ich schob dem Schaltermann mein Ticket zu und hatte das Glück, auf einen deutschen Angestellten zu treffen, dem ich meine Lage schildern konnte und der wusste, was zu tun war. Er führte zwei Telefonate simultan, während eine junge Frau auf der Bildfläche erschien, die mit mir zum Security-Check eilte. Ich legte meinen Reisepass vor, der Beamte erledigte irgendwas mit meinem Visaschein und die Frau sprach derweil mit dem Security-Mann was Chinesisches wegen des Koffers, den ich nicht aufgegeben hatte. Dann wandte sie sich zu mir und sagte: „Wenn alles gut geht, sehen wir uns in zwanzig Minuten auf der anderen Seite. Wenn nicht, viel Glück“. Dann rauschte sie davon. Die Kontrollettis sahen grimmig aus. Und sie behandelten einen nicht wie auf einem deutschen Airport mit allerlei Dankes und Bittes und freundlichen Anleitungen. Ich dachte an meine ganzen Silberscheiben im Koffer. Ich dachte an mein Tablet, meine ganzen Kabel und Akkus, mein Taschenmesser, meine Fotoausrüstung, das Zeugs aus dem Supermarkt mit dem chinesischen Schnaps, die Toilettensachen und all das andere Zeugs im Koffer und im Handgepäck, weswegen man in Europa einen Riesenärger bekommen würde, insbesondere wenn der Besitzer der Dinge so aussieht, als ob er sich vor Anspannung selbst in die Luft zu sprengen droht.
Doch dann geschah ein Wunder, dass ich mir bis heute nicht so recht erklären kann. Der Koffer wurde ohne Aufhebens durchgewunken, lediglich das Handgepäck wurde kurz durchwühlt und ich schaffte es tatsächlich, in exakt zweiundzwanzig Minuten durch die ganze Prozedur und die Warteschlangen bis zum Gate. Die Frau von vorhin war da, wo sie sein sollte, rannte mit mir zum Gate und übergab mich vorm Einlass zur Maschine einem Lufthansamann, der es aber gar nicht eilig hatte. „Stellen Sie Ihre Koffer zu den Kinderwagen da und pusten Sie durch. Wir haben noch zehn Minuten.“
Ich blieb stehen und pustete durch. Sehr, sehr lange. Dann sah ich mich um.
Direkt hinter mir gab es eine Bar mit allerlei Hochprozentigem. Ich zählte meine restlichen Münzen zusammen.
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