This Flight Tonight !

 

Jeden Montag standen wir da an diesem Mäuerchen vor der Kirche. Das Mäuerchen trennte den Kirchvorplatz von einer ziemlich steil darunter liegenden Straße und wenn wir uns am Mäuerchen trafen, konnten wir uns vornauf mit den Armen abstützen und während der Unterhaltung schauen, was unten vor sich ging. Meist ging nichts vor. Das störte uns aber nicht weiter. Es war schön, so wie die beiden Alten aus der Muppetsshow auf dem Balkon zu stehen understand  zu fachsimpeln, falls jemand hinschaut. Meist war Musik das Thema. Hast du die schon gehört oder wie findest du die neue von dem und auf der und der Platte hab ich neulich ein Stück entdeckt, das echt rockt.

Wir sprachen über Mike Oldfield, Neil Young und Fleetwood Mac und ich denke, wir wussten zweifelsfrei, worüber wir sprachen. Auf unserem Gebiet waren Tom der Klavierspieler und ich über jeden Zweifel erhaben. Die anderen drum herum hörten einfach nur zu, wenn wir loslegten und über Musik konnten wir stundenlang reden. Bravo lesen war nur was für kleine Kinder, obwohl wir es natürlich trotzdem taten. Aber wir wussten, wenn von den anderen jemand was beizusteuern hatte, dann meistens nur aus dem was in der Bravo stand. Und weil wir wussten, was drin stand, war es einfach, der große Kenner zu sein. Man musste dazu nicht sehr viel wissen, ein bisschen was von allem reichte, um zu antworten: „Das haste wohl aus der Bravo“ und schon war Ruhe im Karton und wir konnten weiter davon schwadronieren, was unserer großen Expertenmeinung nach gerade angesagt war. Danach war montags immer Jugendclub. Immer um Fünf.

Der Jugendclub bestand eigentlich nur daraus, dass sich ein paar Gleichaltrige aus dem Viertel der evangelischen Gemeinde trafen und miteinander eine Art geführte Unterhaltung mit dem Berufsjugendlichen der Kirchgemeinde führten, den es aus mir heute nicht mehr erklärbaren Gründen aus Braunschweig zu uns verschlagen hatte und der es sich zur Aufgabe machte, sich um den Nachwuchs für die Kirchengemeinde zu kümmern. Um ehrlich zu sein, mit der Kirche hatten wir alle nichts am Hut. Aber es war cool, sich hier zu treffen und in der Runde thematisch zu quatschen, wie wir es nannten. Der Kirchenmann wusste sehr genau, wie er uns dazu brachte, regelmäßig da zu sein und er hatte immer ein offenes Ohr für uns. Ich mochte ihn. Es gab immer mal die ein oder andere Spende, die er an uns verteilte. Oft waren es Konzertkarten. Keine Ahnung, wo er die her hatte. Wenn es darum ging, sie unter uns zu verlosen, war ich bisher immer leer ausgegangen. Aber sehr spannend war es auch nie, was er anzubieten hatte. Bis auf dieses eine Mal. Er hielt die Karte hoch. Es war nur eine einzige und ich hatte Riesenglück, denn Tom war diesmal nicht dabei. Drauf stand der Name einer Rockband, über die ich gerade zuvor in der Bravo gelesen hatte, wie  rauh und hart und hammermäßig rockig sie war und meinem Eindruck nach, musste sie die lauteste und härteste Rock-Band aller Zeiten sein. Nazareth! Wie cool! Die musste ich haben! Und ich bekam sie auch. Denn selbst wenn die anderen auch die Bravo lasen, dann war ich anscheinend der Einzige, der diese Woche schon über Dr. Sommer hinaus gekommen war.

Also kriegte ich die Karte zum ersten Livekonzert einer Rockband, das ich bis dato sehen durfte. Kurz zuvor hatte mir Vater eine LP von den Jungs mit einer Best-of-Compilation geschenkt, aber bis hierher hatte ich sie nicht mal beachtet. Vier Tage waren es noch bis zum Konzert am Freitag und von da an hörte ich sie jeden Tag in einer Art Endlosschleife. „Love Hurts“ und „This Flight Tonight“ gefielen mir am besten. Am Tag des Konzerts potenzierten sich meine Aufregung und Vorfreude um ein Vielfaches. Ich war gerade mittags zu Fuß auf dem Heimweg aus der Schule, als von der Autobahn kommend ein Riesen-Konvoi aus ca. vierzig Fahrzeugen hupend und lärmend  vorbei fuhr. Zuerst konnte ich es nicht zuordnen, aber dann begriff ich es. Der Bus, der die Autoschlange anführte, war der Bandbus von Nazareth! Und dahinter lauter PKWs mit fremdländischen Kennzeichen und darin völlig ausgeflippte Freaks, die schottische Fahnen aus ihren Fenstern schwenkten und mit lautem Hupkonzert in die Stadt einfuhren. Oh wow! Ich freute mich wie Bolle auf den Abend. Ich erzählte Mutti, wir würden mit der Jugendgruppe hingehen, also war es kein Problem.

Ich war zwei Stunden vor der Zeit an der Halle. Jede Menge Fans warteten bereits auf Einlass. Viele sprachen englisch, was es irgendwie noch spannender machte. Oh Mann. Gerade vierzehn geworden und mein allererstes Rockkonzert. Ich versuchte in meiner Jeansjacke sehr cool auszusehen und möglichst desinteressiert wie jemand, der schon hundert Konzerte hinter sich hatte. Vielleicht würde ich eine Rockerbraut kennenlernen, die mir zeigt, was es heißt, so richtig abzurocken! Als wir in den Saal durften, schritten die Hardcorefans gleich voran nach vorne an die Bühne. Ich ließ zwar ein bisschen Abstand zu denen, die mit ihren Tätowierungen und Lederklamotten etwas furchterregend aussahen, hielt mich aber in der Nähe auf. Dann entdeckte ich die wahnsinnig riesigen Boxentürme links und rechts von der Bühne und die zogen mich magisch an. Ich betrachtete sie mir aus allernächster Nähe und dachte, wenn schon heute dein erstes Rockkonzert ist – dann aber richtig. Ich platzierte mich in etwa dem Abstand von dem gigantisch mächtigen, schwarzen Turm links von der Bühne, den ich für angemessen hielt. Also etwa so fünf bis zehn Meter. Und gerade so weit genug von den Lederjacken mit den Bärten und Kettengürteln weg, dass ich meiner Einschätzung nach ungefähr goldrichtig stand. Viel zu cool, um sich sein erstes Rockkonzert anmerken zu lassen und mit dem gebührenden Abstand zu den ganz Verrückten, zu denen ich ja auch noch nicht zählen wollte. Erst mal sehen, was jetzt kommt. Dann ging das los.

Vor dem Konzert liefen jede Menge coole Songs vom Band zum Einstimmen. Es konnte jetzt einfach nichts mehr schief gehen. Ich hatte es geschafft. Hier war ich richtig. Morgen würde ich verdammt viel erwachsener sein und ich hätte auch verdammt viel zu erzählen, aber ich würde es zunächst nur den Coolen stecken. Dann sollte es sich langsam wie ein Lauffeuer durch die Schule breit machen. Das war der Plan. Dann stoppte die Musik abrupt und der Saal wurde tiefschwarz dunkel und die ganze Menge johlte und sie schrien und riefen wie die Bekloppten irgendwas durcheinander und alles war in Bewegung, aber soweit hatte ich es eingeplant und alles Pogo-sicher in die Taschen gestopft. Die Band kam auf die Bühne. Der ganze Saal tobte und ich ließ mich mitreißen, bis sie ihre Gitarren umhatten und der Schlagzeuger saß. Der Sänger gröhlte irgendwas Unverständliches ins Mikro… und das war so rückblickend der letzte Moment, in dem ich hätte ahnen können, was kommt, denn der erste Reflex führte dazu, dass ich die Arme zu den Ohren hochriss, aber ich ließ die Lauscher wieder los, nachdem die Ansage mit einem mächtigen Hall abebbte.

Dann griffen die Jungs ruckartig in die Saiten und der Beat hob mit einer unfassbar physisch spürbaren Druckwelle aus diesem riesigen Turm an, dass er mich mit einem Riesensprung nach hinten riss und zwar so sehr, dass ich die beiden hinter mir auch noch nach hinten umkickte. Und plötzlich war alles still trotz Kakophonie rundum! Das ganze, große, heiß erwartete, unfassbar spannende Abenteuer des Rock’n’Rolls war mit einem einzigen (!) Ton in einer einzigen Sekunde vorbei. Meine Ohren knallten vor Schmerz und augenblicklich hörte ich überhaupt nichts mehr und alles war nur noch ein riesiges, tobendes Inferno und während ich mich langsam nach hinten fallen und treiben ließ, sah ich diese ganze Menge völlig ekstatisch herumzappeln und ich wusste nicht warum, denn sie mussten dass doch auch erlebt haben, dass ihnen gerade jemand mit zwei Vorschlaghämmern auf die Ohren schlug. Mein Puls ging wie panisch hoch, weil ich merkte, dass ich binnen einer Sekunde des Hörens beraubt wurde und ich taumelte zum Ausgang, hielt mir die Ohren fest und irgendwer am Ausgang schrie was zu mir hin, aber ich hörte nichts, rein gar nichts und sah nur, wie er seinen Mund bewegte. Ich lief nach draußen, die Hände fest an die Lauscher geklammert und setzte mich auf eine der Sitzbänke vor der Halle und versuchte langsam aber sicher von der Panikattacke runterzukommen, aber es wollte erst langsam, sehr, sehr langsam gelingen.

Den Rest des Abends und die ganze folgende Woche hörte ich kaum was, außer einem fürchterlichen Tinitus, was mir glatt ein Zitieren vor den Schulrektor einbrachte, aber ich konnte ihm die Wahrheit nicht erzählen, ich traute dem Typen einfach nicht. Mutti gegenüber simulierte ich was – weiß gar nicht mehr was – aber es gelang mal wieder ohne weiteres. Für die nächsten zwei Jahre war ich vom Rock’n’Roll geheilt, ich erzählte nicht mal Tom von meiner Schmach. Doch dann gaben Genesis ein Open-Air in der Stadt und ich traute mich hin, als ich sechzehn wurde und auch ein bisschen, weil Tom mit dabei war. Sie waren immerhin bekannt für ihre Light-Show und weniger für ihre Boxentürme. Trotzdem stellten wir uns ganz weit hinten mittig hin, weil ich Tom erzählte, nur so könne man die fantastische Lightshow richtig genießen. Drüber reden war wirklich wesentlich einfacher.

 

 

 

 

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