Die Stadt war übersichtlich. Mit jedem Schultag lernte ich meine Pappenheimer besser kennen. Auf dem Nachhauseweg hatte ich meist noch was vom Schulbrot übrig und nicht selten sogar eine komplett eingewickelte und liebevoll verpackte Stulle, die ich nicht wieder nach Hause schleppen wollte. Denn das gab meist unangenehme Rückfragen, denen ich mich entziehen wollte. Mutti hatte einen Job, seitdem ich sieben war und für den sie kurz nach mir das Haus verließ, also gab es was schnell ging, aber nach der vierten Eierstulle in fünf Tagen investierte ich meist was vom Taschengeld am Schulkiosk und gab das Brot auf dem Rückweg an einen der Obdachlosen ab, die wir damals noch Bettler nannten. Ich kannte einen, der nahm das Pausenbrot gerne und man sah ihm an, dass er sich drüber freute. Er saß mit großer Zuverlässigkeit immer an der gleichen Ecke.
Einmal entdeckte ich in meiner Schultasche eine Banane, die da offensichtlich schon länger drin hockte, denn sie hatte schon lustige Kuhflecken, also war es an der Zeit sich zu entscheiden, was ich damit machen wollte. Ich entschied mich fürs Selberfuttern, denn auch wenn ich ein großes Herz für den Bettler hatte: Das Ding war einfach reif – und was für eine geniale Verpackung so 'ne Banane hat! Die Schale schützt und konserviert, man braucht kein Diplom und kein Werkzeug, um sie zu öffnen und das Entblättern hat was Ästhetisches, wenn man die Schale so von oben herab runterzieht. Nun, meine Banane glitschte schon mehr so aus der Verpackung raus und ich stopfte sie hastig in mich rein, denn sie roch einerseits verführerisch lecker und andererseits war sie zu weich, um sie festzuhalten. Dann öffnete ich einen beliebigen schwarzen Mülleimer, der am Straßenrand stand und ließ die Schale reinfallen.
Ich war gerade dabei, die Tasche nach weiteren Fundsachen abzusuchen und meinen Weg fortzusetzen, da klopfte es wie wild von innen an eine der Scheiben aus dem angrenzenden Wohnhaus heraus. Eine sehr griesgrämig, geradezu hasserfüllt dreinschauende, alte Frau mit schneeweißen Haaren gestikulierte wie wild hinter der Scheibe rum und deutete mir in einer Art Pantomimentheater an, dass sie es nicht wünsche, wenn die Schale einer fremd verzehrten Südfrucht in dem Behälter lande, den sie ihr Eigentum nannte. Ich finde bis heute keine Worte und erst recht keine Erklärung für diese kleinstädtische, aberwitzig bescheuerte Posse, aber ich vermute, sie musste für die Leerung einer vollen Tonne zahlen und gönnte es niemandem, ihr beim Füllen behilflich zu sein, auch wenn es nur eine lächerliche Bananenschale war. Ich war schon drei Schritte weiter, aber ich wusste, was ich zu tun hatte und kehrte zur Tonne zurück, öffnete sie und suchte die Schale. Die Tonne war erst zu einem Drittel gefüllt, also musste ich sie bei geöffnetem Deckel leicht nach vorne kippen, damit ich richtig rankam.
Die Tonne stank wie die Pest, aber ich wollte das Ding unbedingt zurück haben, um der Alten zu zeigen, was es heißt, ein wirklich guter Pantomime zu sein. Nicht dieses lächerliche, hilflose Fuchteln hinter der Scheibe. Nein. Echtes, gutes Theater mit einem hochdramatischen Finale, das zugleich moralischen Anspruch beweist und mit einem überraschend erfrischenden Einfall endet, der das Publikum begeistert, vielleicht sogar schockiert und nachdenklich zurück lässt. Endlich hielt ich sie wieder in den Händen. Ich schaute mich nach dem Publikum um, aber nur eine gerade aus dem Supermarkt zurückkehrende Hausfrau mit zwei schweren Einkaufstüten war in Sichtweite. Immerhin war sie durch meine Requisiten aufmerksam interessiert. Ich wirkte mit meinen hellblonden, gescheitelten Haaren und der Aura eines singenden Kinderstars namens Heintje auf den ersten Blick wie ein wahr gewordener Traum werdender Mütter und Omis, aber irgendwie musste es grotesk fehlbesetzt wirken, dass Heintje gerade aus einer Mülltonne wieder auftauchte, um Biomüll zu fischen, den er jetzt auch noch stolz präsentierte.
Ich drehte mich, des sicheren Blicks meines Publikums gewiss, wieder zum Fenster und hielt der Alten die Schale hoch. Sie nickte und wies mir mit schrecklich amateurhaften Gesten, indem sie einen erhobenen Zeigefinger hin und her schwenkte, dass sie dieses Teil nicht in ihrer Tonne wünsche. Ich streckte den Arm mit dem Corpus Delicti hoch aus und dann soweit er reichte, nämlich genau bis über den Zaun des Eigenheims. Ich ließ den ausgestreckten Arm für einige Sekunden über dem kurz geschnittenen Grün schweben und öffnete dann mit einer gekonnten Spreizung von Daumen und Zeigefinger die imaginäre Zange, damit das gelbbraunschwarze Ding genau ins satte Grün plumpste.
Während dieses gekonnten Finales schaute ich gebannt auf meine Partnerin und animierte sie durch meine Performance zu einer höchst motivierten Vorstellung, indem sie wie wild hinterm Fenster auf- und abhüpfte und ihre ganze Wut schauspielerisch sehr konsequent umsetzte. Zu meinem Bedauern vergaß sie für einen kurzen Augenblick, dass wir mitten in einem stummen Drama steckten und schrie irgendwas Unverständliches hinter der geschlossenen Scheibe raus. Das Publikum verharrte staunend, um das Gesehene angemessen einzuschätzen, denn ein jeder Theaterkritiker braucht seine Zeit, um ein gutes Stück zu verarbeiten. Ich verbeugte mich nach allen Seiten, schloss aufreizend langsam die Tonne zum Zeichen des letzten Akts und war nun bereit für den tosenden Applaus. Ich verbeugte mich, verließ zufrieden die Bühne, denn ich wusste, dass ich bleibenden Eindruck hinterlassen hatte und suchte in der Schultasche nach weiteren Requisiten für die folgenden Engagements, auch wenn mir noch nicht klar war, wer mein kommender Partner sein würde. Aber immerhin wusste ich schon einen, der wäre gegen 'ne Eierstulle für jede Zugabe bereit.
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Gelesen am 9.10. im Café Cralle, Text Nr. 2
Gelesen am 25.09. in der Flora-16 , Text zwei