Des Teufels General

Für Sam klang es damals nach einem lockeren Job. Den Koreaner, den er vor drei Monaten in der Sushibar im Susong-Dong in Seoul kennengelernt hatte, hatte er zuerst gar nicht ernst genommen. Er sah halt aus wie jeder andere Koreaner, dachte er sich und außerdem "keine Ahnung, was der will", denn Sam sprach kein koreanisch. Der Koreaner ließ nicht locker. Diesmal versuchte er es auf englisch und Sam verstand es nicht auf Anhieb, aber es hatte was mit "pfeifen" zu tun. "Mach das noch mal", sagte der Koreaner, "was?", fragte Sam und der Koreaner sagte "pfeifen". Sam ließ das eine Weile sacken, auch wenn er genau wusste, was er meinte. Zwei Minuten zuvor suchte der Kellner mit frittierten Rollen den Gastraum ab und schaute sich fragend nach dem Besteller um und weil er kein koreanisch sprach und auch nicht wusste, ob der Kellner es zu englisch gebracht hatte, pfiff er spontan durch den Raum den Kellner an. Das war sicher nicht die feine koreanische Art, dachte er im Augenblick nach dem Pfiff, aber es funktionierte und damit war es gut. Außerdem vermied er es, einen schrillen und eintönigen Pfeifton vom Stapel zu lassen, sondern entschied sich spontan für den Pfiff, den er noch in der Schulzeit von seinem besten Freund erlernt hatte und der eine Mischung aus Melodie, Bewunderung und Orientierungsruf geworden war. Er bestand aus fünf Tönen und bisher hatte noch jeder mindestens kurz hingeschaut, wenn er ihn los ließ. Zu Schulzeiten war das ein tägliches Instrument der Kommunikation und es funktionierte immer dort, wo es seine Wirkung nicht verfehlen konnte. Sam war bis zuletzt nicht bewusst, warum ihm genau dieses Pfeifen für diesen Moment wieder eingefallen war, aber damit begann das Drama. Der Koreaner sagte "pfeifen. Nochmal pfeifen. Pfeif!". Er war geradezu euphorisiert und Sam dachte; okay; wenn es ihm Freude macht. Er wiederholte die Melodie.

"Füdifiefiiepfapp" pfiff er ihm was vor. Der Koreaner sah ihn mit glänzenden Augen an. Es war ein Blick, als erkenne er in Sam den Messias. Dem Koreaner schossen Tränen in die Augen vor Begeisterung. "Nochmal" herrschte er Sam an, "nochmal!, Pfeif das nochmal!" rief er und es klang jetzt gar nicht mehr freundlich, es klang vielmehr beängstigend. Sam traute sich nicht, zu widersprechen. Die Szene hatte eine Brisanz angenommen, in der Sam jeden Moment damit rechnete, dass sich links und rechts von ihm Horden von Ninjas formatieren, um ihn zur Hölle zu schicken. Vielleicht war es sein letztes Sushi, aber er folgte dem Befehl des Koreaners, alles andere kam nicht in Frage. "Füdifiefiiepfapp" pfiff er nochmal, diesmal etwas langsamer und zaghafter in der Hoffnung, dass der Koreaner dann aufgeben würde. Stattdessen führte der einen Freudentanz auf, rief was koreanisches über die Theke und der Kellner füllte eine Lokalrunde Soju ab und auch alle anderen rund um den Sonderling fingen an, sich zu freuen, als ob Sam ihnen gerade erklärt habe, dass die Mauer zu Nordkorea abgebaut würde.

Drei Monate lag die Szene nun zurück. Und Sam wünschte sich nichts mehr, als dass es bloß ein Albtraum gewesen sei. Aber es gab keinen Weg mehr zurück, es gab keine Chance mehr, es ungeschehen zu machen, die Uhren zurück zu drehen, das Geld zurück zu geben oder der Firma des Koreaners klar zu machen, dass alles nur ein großer Irrtum war oder wenigstens einen der zahlreichen Advokaten für Markenrechte einzuschalten, um ein für alle mal zu verdeutlichen, dass ihm und nur ihm allein die Rechte an "Füdifiefiiepfapp" zustanden. Es war aussichtslos. Erstens war sein Schulfreund damals als erstes auf den Trichter mit dem Pfiff gekommen und zweitens hatte er im Gold Office des Firmenimperiums, für das der Koreaner arbeitete, einen Vertrag unterschrieben, der ihm und jedem anderen in der Welt in zweiundzwanzig Sprachen verdeutlichte, dass er sämtliche Rechte des Pfiffs für alle Zeiten an den Koreaner verkauft hatte.

"Füdifiefiiepfapp" machte es aus dem Handschuhfach des Taxifahrers neben ihm und er schlug sich reflexartig mit beiden Händen auf die Ohren. Er konnte es einfach nicht mehr ertragen. Es machte ihn wahnsinnig. Ihm kam es vor, als ob alle Welt sein Inneres nach außen kehrt, als ob jeder Depp auf dieser Welt das Recht hätte, ihn nachzuäffen, als ob er seine Seele, seine eigene Entscheidung, wann und warum er sich zu irgendwas äußern darf, jedem zu einer frei verfügbaren Masse gestellt hätte. Und alle, alle taten sie es. Im Bus, in der Bahn, innerhalb jeder Menschenansammlung mit mehr als fünf Personen- irgendwer war immer dabei, der so pfeifen musste! Ihm war bewusst, dass er verloren war. Er gab auf. Er kapitulierte. Er nahm die Tatsache an, dass er langsam, aber sicher durchdrehte. Es gab keinen Weg zurück. Er brauchte Ruhe. Alles würde er irgendwann wieder ertragen können, aber kein einziges "Füdifiefiiepfapp" mehr. Er hatte nicht weniger als zehntausend dafür kassiert, dass er den Koreanern ungefähr fünfzig Mal aufs Band pfiff. In nicht mal zwei Stunden. Zehntausend. In zwei Stunden. Einen Moment lang fühlte er sich wie Bill Gates. Wenn er gewusst hätte, welche Ausmaße der Deal annimmt, hätte er mit dem Wissen von heute, damals nicht mal zwei Millionen akzeptiert. Und selbst mit zwei Millionen hätte er sich nicht so schützen können, wie er es sich jetzt wünschte.

"Füdifiefiiepfapp", klang es aus der Dienstkleidung des Pflegers, der die Klinik gerade verließ, als er durch die gläserne Drehtür schritt. "Füdifiefiiepfapp" klingelte es in seine Ohren, als er sich an der Theke anmeldete. "Ich muss einen Arzt sprechen", versuchte er es so ruhig, wie es ihm eben noch so gelang. "Füdifiefiiepfapp" antwortete das Handy der Krankenschwester. "Schalten sie das ab!!! Sofort!!!" herrschte er sie in der gleichen Manier an, wie ihn damals der Koreaner aufforderte, das Gegenteil zu tun. "Füdifiefiiepfapp" machte das Handy wieder. "Noch-ein-einziges-Mal…" bedrohte er sie, aber da kamen auch schon die Jungs vom Sonderkommando und klemmten ihn links und rechts unter, um ihn in den Aufzug zu zerren, der ihn auf die geschlossene Abteilung der Psychiatrie bringen sollte. Sam wehrte sich nicht. Es war ohnehin seine einzige Hoffnung. Endlich Ruhe, hoffte er, endlich, endlich… In der Geschlossenen herrschte hektische Betriebsamkeit. Während die Gorillas ihn links und rechts fest im Griff über den Flur schleppten, sah er sich die übrigen Opfer an. Kurz vor dem Büro des Stationsarztes saß einer mit einer Milchtüte in der Hand auf dem Boden rum. Er sah nach oben und beobachtete, wie die Jungs vom Sonderkommando ihren Job ernst nahmen und den gefährlichen Sam fest unterhakten. "Muhmuh, macht die Kuh" sagte er stoisch, aber direkt zu Sam hingewandt. Das war seine Botschaft. Aber Sam ignorierte sie. Er hatte seine eigene.

 

 

 

 

*************

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert