U- und S-Bahnen fahren in Berlin, das ist wie großes Kino. Du musst nichts weiter tun, als die Augen offen zu halten und bist bestens unterhalten. Neulich kam jemand wie Fred Astaire durch die Reihen geschlendert, mit Zylinder und den Tanzstock lässig schwingend und pickte sich jede einzelne Frau raus, um ihr Komplimente zu machen. "Ihre außerordentliche Eleganz lässt mich vermuten, dass Sie eine adäquate Partnerin für ein abendliches Tanzvergnügen wären, werte Dame!" Dabei lächelte er grenzdebil in eine imaginäre Kamera und hüpfte ein paar mal in seinem Frack hin und her. Zu einer anderen sagte er: "Ihre Erscheinung löst in mir strahlenden Sonnenschein aus. Es ist mir ein inneres Blumenpflücken, Sie hier und jetzt zu entdecken. Sie machen mir eine große Freude damit". Dann umkreiste er eine der Stangen mit seiner freien Hand und ließ den Stock elegant in der anderen kreiseln. Es war ein absurdes und lustiges Schauspiel und es war eine absolut alberne Nummer, aber er brachte jeder Frau einen neuen Spruch. Und nichts nur so dahergesagt. Alles wohlfeile Worte, die er betont und selbstbewusst aussprach. Er hatte sich das alles in schönen Sätzen zurechtgelegt. Er zog vier oder fünf von diesen Nummern ab und ich beobachtete die Angesprochenen . Keine einzige nahm ihn ernst, aber jede von ihnen lächelte, als sie an der Reihe war. Es machte ihnen einfach Spaß das zu hören, auch wenn sie ihn nicht ernst nahmen.
Sie war keine 25, trug eine knallenge Jeans, darüber einen lila-farbenen Adidas-Anzug und an den Füßen hatte sie goldene, mit Schmucksteinen bestückte Turnschuhe. Über ihren schwarzen Haaren trug sie einen weißen Bügelkopfhörer, der so riesig war, dass er trotz ihres auffälligen Outfits das augenscheinlichste Merkmal darstellte. Schon beim Einsteigen tanzte sie durch die U-Bahn und setzte sich dann schräg gegenüber von mir auf die Bank, um ihren Kopfhörer-Song augenblicklich dadurch zu teilen, dass sie ihn laut mitsang. Sie hatte eine schöne Stimme, aber sie setzte sie ein wie eine Quietschkastenleier. Scheinbar völlig unzusammenhängend aneinandergereihte La-La-La-Laute tönten durch die U8. Es klang, als ob sie irgendein Kinderlied, von dem sie weder den Text noch die Melodie kannte, dem ganzen Waggon vorstellen wollte. Eine ganze Zeit lang versuchten die Umhersitzenden, den schaurigen Singsang zu ignorieren, was sie irgendwie noch mehr befeuerte, indem sie noch lauter und noch schräger sang. Die einzigartig schlechte Darbietung bewirkte aber was Sonderbares. Die Mitfahrer schauten von ihren Smartphones und Tablets auf und sahen sich gegenseitig an. Sie suchten die Bestätigung über diese fürchterlich schrägen Töne, indem sie Blickkontakt zu den Nachbarn aufnahmen – und lächelten. Alle fingen plötzlich an zu lachen und im ganzen Zugteil breitete sich Fröhlichkeit aus, nur unser Spatz von Berlin sang regungslos weiter und bemerkte nicht mal, was er ausgelöst hatte.
Ich schätzte den unrasierten, in der ersten Busreihe sitzenden Cordhosenträger auf Mitte 60. Er trug zwei gefüllte Aldi-Tüten mit sich und wartete, bis der letzte Gast eingestiegen war, sich die Türen schlossen und der Bus sich in Bewegung setzte. Dann legte er in voller Lautstärke los. "Eene Welle nach 'er annern", röhrte er los. "Bekloppt sind 'se alle!" rief er durch den Bus. "Erst kam det Fernsehn, denn musst'n se alle compudern, denn alle in't Intanett und denn die janze Seuche mit dett Händi", ließ er vom Stapel. "Eene Welle nach 'er annern. Bekloppt sind 'se alle!" Hört, hört, dachte ich. Recht hat er ja. "Erst musst'n se alle nach'm schön' Italien, denn musst'n se alle nach 'er Karibik und heute woll'n se alle uff'n Mond", gab er weiter zum besten. Es dauerte ein paar von diesen markigen Sätzen, dann hatte er sich in Fahrt geredet. Der Busfahrer schaute entsprechend nervös, aber mir machten die Weisheiten Spaß – der Typ hatte es echt drauf. Ich startete vorsichtshalber das Rekorderprogramm auf meinem Handy. "Früher ham'se nix zum Fressen jehabt, dann musst'n se so ville futtern wie et jing und heute stoppen se sich allet rinn, Hauptsache billich!" kam er in die Vollen. Die Parolen dröhnten nur so durch den Gang. Die anderen reagierten genervt und missmutig. Irgendwie hatte ich das Gefühl, als ob er uns allen bescheid sagt – und das wollte nun mal niemand hören. "Damals sind'se in die Tanzlokale und war'n janz ufjereecht, dann ham'se't allet in die Zeitung rinnjesetzt und jetze allet mit dem Fääßbukk", legte er nach. "Nee. Nee! Eene Welle nach 'er annern. Wie die Bekloppten!". Ich bedauerte außerordentlich, wieder aussteigen zu müssen, nahm aber zum Schluss noch einen mit: "Früher konnten se kaum ne Karte richtich rum halt'n, dann ham'se allet im Intanett jesucht und heute find'n se keen Scheißhaus mehr ohne Nawwi", rief er mir zur Zugabe nach. Dann war er wieder still, solange die Türen offen waren. Kaum fuhr der Bus wieder an, konnte ich ihn sogar von draußen noch hören. Mit großer Bewunderung schaute ich dem Bus nach, etwas besorgt darüber, ob der Philosoph wohl heil nach Hause kommt.
Es gibt einen Witz, den ich unter anderem von Kurt Krömer hörte, den es aber in vielen abgewandelten Formen gibt. Nichts beschreibt es besser. "Kommt eener zum Pschyschiada unn sacht 'Ick kann nich mehr, ick dreh total durch', sacht der Pschyschiada 'Watt? Du hast eenen an da Schralle? Ick hab keenen Termin frei, aber hier haste ne BVG-Karte, kannste solange rumfahn'"
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Gelesen am 17.07.17 am Lesetresen im Café Cralle, Text 3