Die Monate vor meinem großen Termin verbrachte ich unter anderem damit, einmal pro Woche die deutsche Friedensgesellschaft zu besuchen. Es ging um unsere Verweigerung, um Krieg und Frieden, jede Menge politisches Zeugs und um unser Gewissen. In der Schule wollte sich keiner mit mir über den Sinn und Unsinn der Bundeswehr mehr streiten. Die Zeiten waren so politisch, dass die meisten von uns die Schnauze davon voll hatten und weil ich mich jeden Tag mit Zeitungen versorgte und alles las, was mich interessierte, fehlte es mir nie an Gesprächsstoff. Ich genoss es auch, dass ich es in politischen Debatten mit wesentlich Älteren aufnehmen konnte. Egal, ob es um deutsche Nachkriegsgeschichte, um Marx und Kant, die RAF oder um die politische Lage in Südossetien ging – ich hatte zu allem was auf dem Kerbholz. Kein Wunder, dass ich mich zum Außenseiter in der Schule machte, aber das war jetzt auch nicht mehr wichtig. Ich meine, man muss sich das aus heutiger Sicht mal klar machen: Es gab diesen ehrenamtlichen Verein, der sich aus der deutschen Friedensgesellschaft und den sogenannten „Vereinigten Kriegsdienstverweigern“ zusammen setzte und deren Aufgabe es nicht etwa war, so viele junge Männer wie möglich vom Verweigern des Waffendienstes zu überzeugen, sondern sicher zu stellen, dass sie es auch tatsächlich aus eigener, innerer Überzeugung tun – und nicht, weil sie keinen Bock auf die Armee hatten. Es ging darum, dass wir es begründen können.
Natürlich merkten sie, dass es mir ernst damit war. Abgesehen davon, dass ich Nachrichten fraß, wie andere Gummibärchen, war ich einfach überzeugt davon. Nie im Leben würde ich eine Waffe gegen einen Menschen richten und außerdem war ich allergisch gegen das Wort Kameradschaft. Die pure Vorstellung, dass ich mich von einem Waffenfetischisten anschreien lasse und mein Spind auf Ordnung kontrolliert wird, löste Übelkeit in mir aus. Mein Mantra war: ich muss gar nichts. Und schon gar nicht zur Bundeswehr. Wer nicht an der Waffe dienen wollte, der konnte auch Zivildienst ableisten. Und zwar länger, als die Zeit, die es einen bei der Bundeswehr gekostet hätte. Dumm war nur, dass ich darüber nicht allein entscheiden konnte. Dafür war natürlich das Kreiswehrersatzamt zuständig. Eine Institution, die es heute nicht mehr gibt, so wie Telefonzellen oder die nächtliche Sendepause im TV. Das Kreiswehrersatzamt war die örtliche Behörde, die dafür sorgte, dass den Soldaten nicht der Nachschub ausgeht und ich hatte mir schon einige originelle Fluchtpläne zurechtgelegt, falls mein Plan nicht aufgehen sollte. Ich erklärte also schriftlich meine Verweigerung und legte eine 27-seitige, handgeschriebene Begründung hinzu, von der ich bis heute überzeugt bin, dass sie sowieso niemand gelesen hat. Es waren die Achtziger und die ganzen Babyboomer kamen fast mit einem Schlag zur Musterung beim Kreiswehrersatzamt. Die hatten gar keinen Bedarf an einem Revoluzzer wie mir und das zeigten sie mir dann auch.
Als ich zur Musterung musste, wusste ich eigentlich alles darüber, wie ich als untauglich eingestuft werden könnte. Es gab zwar noch kein Internet mit hilfreichen TikToks, aber die Tipps ähnelten sich sehr. Zum Beispiel Cognac über den Urinstreifen schütten, sich beim Rechentest als Vollidiot geben oder sich taub stellen oder wie blind in den Raum stolpern. All diese Tricks kannte ich, aber die vom Kreiswehrersatzamt natürlich auch und ich wollte es nicht drauf ankommen lassen. Es war mir wichtig, dass ich als Kriegsdienstverweigerer anerkannt werde und wenn das schiefgehen sollte, dachte ich mir, will ich wenigstens keine Kanonenrohre putzen. Also strengte ich mich sogar an, legte zehn Liegestützen mehr als verlangt hin und rechnete das Übungsblatt runter, als ob es um ’ne Eins in Mathe ging. Das Witzige an dieser ganzen Anstrengung war, dass ich mit „vorübergehend untauglich“ eingestuft wurde. Eine Zeit lang dachte ich, dass sei deren Antwort auf meine Verweigerung, aber ich schätze, die hatten einfach genug Fußvolk zu der Zeit und dachten sich wohl, alle Überflüssigen ziehen wir später ein. Ich ärgerte mich. Ich hatte mich wirklich angestrengt, als es an die Übungen bei der Musterung ging – und jetzt sagten sie mir, ich sei eigentlich gar nicht tauglich für den Scheiß und ich bekam einen weiteren Termin für das Jahr drauf.
Das war natürlich nervig, weil die Verweigerung auch noch nicht durch war und ich nicht wusste, worauf ich mich einstellen sollte. Ich beschloss dann, erst mal zum Arbeitsamt zu gehen. Die freie Zeit nutzte ich, um mir jede Menge Atteste zu besorgen, denn wenn ich in DIESER Form schon vorübergehend untauglich sein sollte, dann konnte doch echt nicht mehr viel fehlen bis zur totalen Freiheit. Verweigert hätte ich natürlich trotzdem, aber gleich untauglich zu sein – das käme mir sehr gelegen, dachte ich. Also besuchte ich jede Menge Ärzte und sammelte Atteste über Krankheiten, die ich gar nicht hatte. Als ich mich zuletzt auch noch beim Röntgenbild wie Quasimodo aufstellte, schien die Sache geritzt. Inzwischen kam dann auch die Einladung zur großen Befragung, dem sogenannten Gewissenstest. Ich wusste, was mich im Ungefähren erwartete, denn darauf war ich vorbereitet. Aber als ich in den Raum kam, der ein bisschen wie im Amtsgericht aussah mit viel dunklem Holz und einer Deutschlandfahne, die über die gesamte Breite des Raums gespannt war, fühlte ich mich sofort wie angeklagt. Ein Tribunal aus drei Männern, von denen zwei in dekorierten Uniformen steckten und ein Dritter in Zivil, der die Fragen stellte, saß da und erwartete mich. Sie versuchten, möglichst streng dreinzublicken, aber nur einer redete und ein anderer schrieb die Antworten mit. Der Dritte machte gar nichts, außer grimmig gucken. Der Frager fragte nach meinem Namen, meinem Wohnort und meinem Geburtsdatum und der Schreiber setzte dann drei Haken. Dann kam die Frage, ob ich mir sicher sei, keine Waffe in die Hand zu nehmen, auch wenn meine Mutter bedroht sei. „Von wem?“ fragte ich zurück. „Antworten Sie mit Ja oder Nein“, sagte der Frager. „Also okay“, sagte ich, „dann Nein“. Der Schreiber schrieb „Nein“ auf. „Gut, Sie hören von uns“. „Das wars?“ fragte ich. „Das wars“, sagte der, der reden konnte.
Ich erhielt meine Urkunde kurze Zeit später, gleichzeitig mit der Einladung zur zweiten Musterung. Da musste ich dann alles noch einmal machen. Auf den Teststreifen pissen, mich vermessen lassen und auch das mit den Liegestützen. Aber dieses Mal machte ich nur drei und tat dann so, als sei ich völlig außer Atem. Beim Rechentest gab ich ein leeres Blatt ab und behauptete, ich könne mich nicht konzentrieren und außerdem hätte ich ständig Kopfschmerzen, sagte ich. „Sie hören von uns“, sagte der Amtsarzt. Tatsächlich erhielt ich nur einige Tage später das Ergebnis. Dieses Mal war ich T3, also plötzlich doch tauglich und das ganze Gerenne zu den Ärzten stellte sich als vollkommen unnütz raus. Später erhielt ich die Aufforderung, den Zivildienst im Krankenhaus abzuleisten und es wurde zur besten Zeit meines Lebens. Als sie 2011 die Wehrpflicht komplett strichen, fielen natürlich auch die ganzen Zivis aus der Gesellschaft raus, die jetzt nicht mehr in den Altenheimen halfen, im Krankenhaus pflegten oder die Rettungswagen bei der Feuerwehr in Schuss hielten. Und heute, wo sie wieder danach schreien, dass Deutschland sich unbedingt mit sehr viel Geld verteidigen muss, da denke ich oft an diese verrückten Zeiten, in denen man sich mit diesem schrägen Kreiswehrersatzamt herum ärgern musste – und dann an den wunderbar nützlichen sozialen Dienst, den wir Zivis stattdessen leisteten. Ich frage mich, was wohl aus dieser Welt geworden wäre, wenn alle von uns statt an der Waffe, für das Allgemeinwohl zwei Jahre ihrer Zeit geopfert hätten.
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