Job Nummer Neunzehn (Teil 1)

Ich kannte keinen anderen Ort, an dem morgens um Vier so viel los war. Und vom Arbeitsschutz hielten sie hier nicht viel. Ständig rauschten die LKWs rein oder raus aus dem Gelände der Spedition und ich war froh, meinen Arsch schon mal heil in die Dispo zu bringen. Drinnen ging es zu wie im Taubenschlag. Jeden Tag neue Gesichter. Auf dem riesigen Tableau am Eingang suchte ich meinen Namen und daneben stand eine sechsstellige Nummer für den LKW. Die musste ich mir merken, damit zur Verteilerstelle – und aus dem Fach mit der richtigen Nummer lagen die Frachtpapiere. Jetzt hieß es, die Liste konzentriert auf Vollständigkeit zu kontrollieren. Den LKW-Schlüssel gab es nur mit vollständigen Papieren, das hatte ich vorher unterschreiben müssen. Also erst nachschauen, ob alle Einzelaufträge drauf standen und dann ob alle Einzelaufträge komplett waren. Falls der Verladezettel eines Auftrags fehlte – und das war oft genug der Fall – musste ich das sofort melden, bevor ich runter zum Parkplatz ging. Dann war wieder irgendein Gauner schneller gewesen. Der Trick bestand nämlich darin, einzelne Paletten mit wertvollen Aufträgen zu finden, sich die beladen zu lassen und dann den Auftrag wieder unbemerkt zurück zu legen. Echte Profis. Das Kontrollsystem bestand lediglich darin, dass der Gabelstaplerfahrer bestätigte, die Palette verladen zu haben – und genau dieser Durchschlag fehlte. Sie kassierten Provision, indem sie den Verladezettel einfach verschwinden ließen. Mehr war dafür auch nicht zu tun. Der Kram war einfach weg und mein Job auch, wenn ich nicht aufpasste.

Waren die Papiere komplett, holte ich mir die Schlüssel für den Truck. Hinter einer dicken Glasscheibe saß der Disponent wie ein Portier im Puff und rückte die Schlüssel auf Zuruf raus. Am Schlüssel hing eine Marke mit der Nummer des Parkplatzes. Meistens war es ein XXL-Transporter mit einem XXL-Hänger, so dass das Gefährt zusammen auf dreizehn Meter Länge kam. Den Hänger musste ich mir zuerst beladen lassen und wer schon mal ’nen Hänger – und sei der noch so klein – rückwärts an eine Rampe bugsiert hat, der weiß wovon ich rede. Der Hänger überdreht beim Lenken auf der Anhängerkupplung. Du musst jeweils rechtzeitig in die Gegenrichtung rudern und dann wieder andersrum zurück und wenn du beim Rückwärtsfahren nicht ständig nach links oder rechts korrigierst – und zwar bevor er überdreht – kommst Du nie an der Rampe an. Die Königsdisziplin war es, mit Hänger rückwärts in einer Kurve mit parkenden Autos zu fahren. Das musste man drauf haben, denn es gab schließlich keine Alternative – außer aufzugeben. Mit jedem Tag ging es besser. Das Gespann ohne Korrektur rückwärts in eine Einfahrt zu bugsieren, gelang mir zum ersten Mal nach einer Woche. All das war learning by doing. Kein Schwein fragte mich nach der Fahrpraxis. Ich zeigte den Führerschein vor und war damit quasi eingestellt, denn wir alle waren nicht bei der Spedition selbst, sondern bei Subunternehmern beschäftigt. Und von einem Tag auf den anderen lenkte ich ein 13 Meter langes Gefährt durch die City.

An der Rampe hielt ich Ausschau nach einem der Gabelstaplerfahrer. Das waren echte Irre. Es machte ihnen Spaß, mit dem Stapler durch die Halle zu rasen, enge Kurven mit hoher Geschwindigkeit zu reißen und sich den Weg frei zu hupen. Einen von denen mit den für mich üblichen Kleinaufträgen zu begeistern, erforderte Connections oder Todesmut. Ich stand da mit meinen Papieren und blickte hilfesuchend um mich, aber keiner von den Stapelfahrern hielt an oder schien mich auch nur zu sehen. Wenn ich dann einen ohne Ladung sah, sprang ich einfach mutig in den Weg und zwang ihn zur Vollbremsung, was meist funktionierte, aber halt nicht immer. Man musste auf Zack sein, um hier zu überleben. Wenn es funktionierte, drückte ich ihm die Papiere in die Hand und kurze Zeit später kam er wieder mit meinen Paletten an, holte den nächsten Auftrag und meistens war ich noch vor Sonnenaufgang wieder raus aus dem Laden. Jetzt noch den Fahrtweg zusammenstellen: Duisburg, Essen und über Belgien zurück. Oder nach Rostock und dann auf dem Rückweg aus Bielefeld was mitbringen. Oder nach Wien und direkt wieder zurück. Oder sonst wohin. Ob man das mit einer Zehn-Stunden-Schicht überhaupt schaffen konnte, war der Spedition egal – das war Sache des Subs. Und der stattete natürlich keinen der Trucks mit zwei Fahrern aus. Dafür aber mit jeder Menge Fahrscheiben für den Fahrtenschreiber und einer ausführlichen Anleitung, wie man die Dinger manipuliert. So war das und jeder wusste das. Und niemanden scherte das irgendeinen Dreck.

Dann raus auf die Autobahn. Der einzige Moment des Tages, an dem sich ein Gefühl von Zufriedenheit einstellte. Ich schob die Kassette in den Player, goss schwarzen Kaffee in den Becher und steckte mir eine an. Dann die Karre auf knappe 90 hochziehen und rollen lassen. Wenn man es schaffte, schon vor Sieben am Frankfurter Kreuz vorbei zu sein, konnte nicht mehr allzu viel schief gehen. Nur nicht zu schnell fahren. Weniger wegen den Fahrtenschreibern, die tauschten wir alle paar Stunden aus und sie mussten in einem ziemlich vertrackten System mehrmals wieder eingelegt werden. Es war mehr wegen den fest installierten Blitzern. Es brauchte einige Wochen, bis man sie auf den Stammstrecken drauf hatte: Am Kasseler Kreuz Richtung Norden, auf dem Kölner Ring Richtung Aachen, am Dietzener Hang und so weiter und so fort. Und das musste ich auch wissen, denn ich blieb einfach auf den Kosten sitzen. Ein Autobahnfoto kostete ungefähr einen Tageslohn und mehrere Blitzerfotos den Job, weil man dann die Pappe abgeben musste.

Dann die Sache mit den Innenstädten. Zur Rush-Hour durch’s Ruhrgebiet zu fahren und nachmittags um Fünf beim Kaufhof in Dortmund eine Palette Irgendwas abzuladen, war kein Vergnügen. Oft standen voll beladene LKWs Schlange vor mir. Die hatten keine Lust, mich mal eben vorzulassen und nicht selten hatten diese Kaufhäuser ihre Rampen in den viel zu kleinen Innenstadtgassen, einen Stapler und einen Packer, was oft stundenlanges Warten bedeutete. Wenn ich morgens die Ladung richtig verteilen ließ, konnte ich den Anhänger vor der Stadt stehen lassen. Aber ich musste mich grundsätzlich nach vorne betteln mit meiner popeligen einzigen Palette oder höchstens mit zweien, die für das gleiche Ziel vorgesehen waren. Und wenn dann der Typ an der Rampe ein Säufer oder ein Depp war, was aufs Gleiche rauskam, zählte der die 240 Einzelpackungen dreimal durch mit drei verschiedenen Ergebnissen. Es war kein Zuckerschlecken.
*
*
*
***
*
Dieser Text kommt Dir bekannt vor? Guckst du hier: NEXT STEP

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert