Started with a kiss

Wir spielten jeden Tag in diesem Rohbau. Es würde mal eine richtige Mietskaserne werden. Die Zäune, auf denen „Eltern haften für ihre Kinder“ stand, drückten wir einfach zur Seite und schon waren wir drin. Ein ganzer Kosmos an Spielwelten stand uns offen. Wir rannten durch die Etagen, jagten die Treppen rauf und runter, durch künftige Bäder, Küchen, Schlafzimmer, die Flure entlang, und die Mutigen unter uns sprangen vom Balkon in die umher liegenden Sandhaufen und von da aus wieder von neuem ab in die Aufzugschächte, in denen man über Leitern die Etagen bis zum Dach abkürzen konnte. Wir hangelten uns an Stories entlang, die ohne dieses Labyrinth nie entstanden wären. Es war nicht nur einfach Nachlaufen, nicht diese Cowboy – Indianer – Sachen, wir spielten echtes Zeugs. Ganze Krimis, mit allem was so dazu gehörte. Unsere Ideen holten wir uns aus den Fernseh-Serien, bevor wir ins Bett mussten und jeder unserer Träume begann mit Emma Peel in ihrem schwarzen Knautschlack-Kampfanzug. Leidenschaftliche Geschichten mit überraschenden Wendungen, atemlos bis zur völligen Erschöpfung durch Paläste, zu denen nur wir die geheimsten Pläne und Zugänge hatten. Wir stürmten sie in Sonderkommandos, lauerten unseren Feinden in den übelsten Hinterhalten mit Wunderwaffen auf, jagten James Bond vom Dach des Empires und seine Weiber zum Teufel.

Manchmal wohnten wir auch nur drin und wir statteten das Schloss mit den Dingen aus, die wir uns noch alle leisten würden – ganz egal wie abgehoben und durchgedreht die Ideen waren. Es waren gute Spiele voller Kraft, Fantasien und Abenteuer. Abends, wenn die Sonne noch schien und wir erschöpft vom Rennen und Toben auf dem großen Sandhaufen draußen im Hof saßen, erzählten wir unsere Geschichten nochmal neu und wenn es langsam dunkel wurde, mussten wir nach Hause zum Essen. Wir hatten keinen Plan wie spät es war. Es wurde einfach irgendwann dunkel, also gingen wir. Meist waren Sonja und ich die letzten. Sie war erst Elf und neu bei uns. Sie wohnte allein mit ihrer Mutter in einer winzigen Wohnung und im Viertel war sie das wildeste Mädchen von allen. Von weitem konnte man sie sogar für einen Jungen halten. Ihre Haare waren blond, kurz und struppig, standen nach allen Seiten ab und sie hatte noch überhaupt keinen Busen, nicht mal ansatzweise. Dafür war sie schnell, muskulös und besser im Fußball als die meisten Jungs, die ich kannte.

Ich mochte sie, denn sie strahlte etwas aus, was die anderen Mädchen nicht hatten. In gewisser Weise war sie viel erwachsener als die anderen, aber ich ahnte damals noch nicht, warum. Außerdem hatte sie schon mal geraucht, was Lichtjahre von meinem eigenen Kindsein weg war. Als einzige von allen war sie stets bei mir und meinen Jungs, während die übrigen Mädchen immer nur gemeinsam im Team gegen das Böse der Welt kämpften. Es war Hochsommer und die anderen waren schon zuhause, als wir wieder mal auf unserem Berg thronten. Wir saßen in unseren kurzen Hosen da und schauten in die Abendsonne, auf den Sand, auf diese riesige Baustelle. Wir baggerten tiefe Furchen in den Sand und sie erzählte mir, dass sie den neuen Freund ihrer Mutter hasst und der davor war auch eklig, aber sonst wussten wir nicht so viel zu sagen. Wir schaufelten Sand auf andere kleine Häufchen. Oder sahen dabei zu, wie er gegenseitig von unseren Knien rieselte. Der Moment, in dem wir beide aufstehen und nach Hause gehen würden, konnte jetzt nur noch Minuten entfernt sein, denn die große rote Sonne verschwand gerade hinterm Baustellenblock.

Und dann drehte sie sich plötzlich zu mir, zog mein Gesicht mit beiden Händen zu sich und ich kippte fast vorne über, als sie mir ihre Lippen aufdrückte und mir einen tiefen, intensiven, nie enden wollenden Zungenkuss gab. Sie bewegte ihre Zunge schnell, was ich erst komisch fand, aber dann gab ich intuitiv nach und wir brachten uns damit in einen schönen Walzertakt. Mein Herz bummerte wie wild, während ich diesen tiefen, überwältigenden Rausch zuließ, der mich fast um den Verstand brachte. Dann brach sie plötzlich ab, stand abrupt auf und rannte nach Hause, als wenn ihr die ganze gegnerische Bande auf den Fersen wäre. Ich begriff gar nicht, was gerade geschehen war. Warum hatte sie so plötzlich damit aufgehört? Es war der erste Kuss meines Lebens und es war der einzige, den ich von ihr erhielt und wenn das nochmal passiert, dachte ich, würde ich nie wieder damit aufhören!

Kurze Zeit später zog sie mit ihrer Mutter wieder weg, aber an diesen Augenblick des Glücks habe ich an den verschiedensten Punkten meines Lebens auf sehr unterschiedliche Weise zurück gedacht. Zuerst weil ich merkte, dass die anderen Mädchen es gar nicht drauf hatten, so zu küssen. Auch wenn ich mich noch so sehr anstrengte. Einige Jahre später zweifelte ich daran, ob das wirklich alles so geschehen war. Es schien mir zu unwahrscheinlich, dass eine Elfjährige so genau wusste, wie sie meinen kleinen Goldfisch zum Kreiseln bringt. Es folgte eine Phase, in der ich neidisch war, weil ihr ja irgendwer das beigebracht hatte und ich zu der Zeit eher noch brav wie Heintje war und keine Peilung hatte. Heute aber, erzähle ich diese Geschichte mit Abstand und mir wird klar, was sie mir mit diesem Kuss anvertraut hat. Und ich will dieses Bild nicht sehen, denn es macht mich rasend wütend, dass ich es erst so spät begriffen hatte. Wenn ich eine Zeitmaschine hätte, würde ich dem Arschloch mit Volldampf in die Fresse hauen.
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