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West-Berlin. Für die 80er war es ein typisches Studentenwohnheim. In der Küche gab es pro Etage circa zehn Kühlschränke und darüber eine Reihe von Vorratsschränken mit Schlössern, von denen die meisten aufgebrochen waren. Wenn man vom Einkaufen zurückkam und was in den Kühlschrank legte, war es eine gute Strategie, das Eingekaufte nicht allzu attraktiv aussehen zu lassen. Flaschen am besten öffnen und antrinken, hochwertigen Käse oder leckeren Joghurt in Papiertüten verstecken oder eine angeschimmelte Brotpackung vor den eigenen Einkauf legen – das war ganz hilfreich. Auf gar keinen Fall Alkohol drin kühlen. Von den ganzen Herdplatten funktionierte immer nur die Hälfte und die Backofentüren zu öffnen war grundsätzlich ein Gesundheitsrisiko. Der Aufzug funktionierte nur in sehr seltenen, glücklichen Phasen und auch dann immer nur einer von dreien und wenn man den erwischte, fiel er oft genug während der Fahrt aus. Dann drückte man den Notruf. Der bewirkte überhaupt nichts – man tat das nur so aus Gewohnheit. Und dann musste man sich nach oben strecken oder auf den Knien mit dem Arm nach unten, um die Türsperren von Hand aufzudrücken. Meistens reichte das, um entweder ins obere Stockwerk aus dem Aufzug klettern oder nach unten raus rutschen. Nur wenn es ein komplett gebrauchter Tag war, blieb der Aufzug genau in der Mitte zwischen zwei Etagen stecken. Dann war sehr viel Geduld gefragt. Unten im Eingangsbereich gab es um die hundertfünfzig Briefeinwürfe, von denen ebenfalls die meisten gewaltsam geöffnet waren. Die Haustür stand Tag und Nacht offen und wer da eigentlich rein und raus ging, wusste man nie, weil man einfach niemanden kannte, höchstens zufällig mal gesehen hatte oder einen, den man in der Küche beim Klauen erwischt hatte. Das war auch kein Wunder, denn selbst wer ein Zimmer hatte, wohnte vielleicht ganz woanders. Und es wohnten Leute drin, die zum Teil gar nicht wussten, wem das Zimmer überhaupt gehörte. Ungefähr 12 Quadratmeter klein waren die Zellen, aber es langte irgendwie, darin zu zweit und in manchen zu dritt zu pennen. Wer einen Raum für sich allein hatte, schwelgte im Luxus. Ich teilte mir für zwei Wochen einen mit einer Krankenschwester, die ich morgens um halb Sechs kennenlernte, als ich von der Nacht berauscht in der U-Bahn saß, während sie auf dem Weg zur Arbeit war. Ich weiß nicht, was sie sich davon versprach, aber es kam nie zu irgendwas mit uns. Sie war einfach einsam oder hilfsbereit oder beides, denke ich. Wenn sie im Bett lag und ich mit meiner Luftmatratze davor, reichte der Platz. Aber das kam selten vor, denn wenn ich morgens nach Hause kam, müde und betrunken und pleite von der Nacht, war sie längst weg, weil sie im Krankenhaus Frühschicht hatte. Dann musste ich wieder zurück in die Kleinstadt, aus der ich kam.
Für mich hatte West-Berlin eine unwiderstehliche Anziehungskraft. Ich wohnte in diesem Wohnheim, in besetzten Häusern, bei Freunden die vor der Bundeswehr geflüchtet waren oder bei flüchtigen Bekanntschaften. Heute bin ich selbst ein Berliner und weiß von denen nicht mal mehr den Namen oder wo sie damals wohnten. Aber die Stadt hatte eine Magie, die heute gar nicht mehr vorstellbar ist, wenn man’s nicht selbst erlebt hat. Während andere Großstädte sich bemühten, saubere Fußgängerzonen zu präsentieren oder mit Zukunftsvisionen zu prahlen, war das West-Berlin der 80er eine wahr gewordene Endzeitstimmung aus einem düsteren Science Fiction. Wer hierher kam, der wollte keine strahlende Zukunft mit Eigenheim und Rente und der wollte auch keine aufgeräumte Stadt mit klaren Regeln und Kehrwoche. Wer nach Berlin kam, wollte Punk, der wollte Freiheit feiern und so sein dürfen, wie er war. Zuhause waren schon selbstgedrehte Zigaretten die Ausnahme. Hier gab es nicht die Bohne, warum irgendwas irgendwen kümmern konnte. Es gab kein Sie, es gab nur Du. Es gab auch keine Wohn- oder Arbeiterviertel, es gab Kieze, von denen jeder einzelne was Besonderes war. Und es gab keine kleinkarierte Sperrstunde, wenn der Wirt mit den letzten Gästen die Tür von innen zuschloss und hoffte, dass keine Streife kontrollierte. Es gab stattdessen rund um die Uhr Kneipen, Bars und Diskotheken. Mochten die Touristen über’n Kudamm ziehen, aber als ich eines Nachts gegen Drei durch Moabit zog, kam ich an einer hell erleuchteten Galerie voller Schwarz-Weiß-Fotografien vorbei, in der sehr viele Menschen mit Fliegerbrillen eine Vernissage feierten. Ich ging rein, trank zwei oder drei Sekt mit und sah mir die Portraits und die Gesichter mit ihren Fliegerbrillen an und zog dann weiter – denn die Nacht war noch jung. Normal war, dass nichts normal war. Wenn ich an einem Sonntagmorgen im Morgengrauen durch Kreuzberg übers Kopfsteinpflaster schwebte und mir die runter gekommenen Häuser, Autos und die olle Mauer ansah, war ich glücklich. Ich stellte mich gern auf eine der aus Holz konstruierten Plattformen, um über die Mauer auf den Grenzstreifen zu schauen, rauchte die letzte Zigarette und beobachtete die Grenzer in ihren Wachtürmen. Sah rüber auf dieses seltsame Deutschland auf der anderen Seite. Und manchmal machte ich rüber, kaufte billig Zigaretten und AMIGA-Platten oder antiquarische Bücher und sah zu, vor Mitternacht wieder durch die Schleusen zu sein. Alles an West-Berlin war faszinierend für mich.
Selbst der erste Besuch im Puff geht aufs Konto des Berliner Bären. Wir waren zu dritt in dieser Nacht schon eine Weile unterwegs, als uns die Lichter am Stuttgarter Platz warm und freundlich begrüßten. Auf der einen Seite des Platzes diese lange, hässliche Mauer zur S-Bahn hin und auf der anderen Seite ein Laden neben dem anderen. Schön bunt und mit verlockend schönen Theken. Hier waren wir zweifelsfrei richtig und bestellten drei Flaschen Bier an der Theke, was unser Glück war, weil das Flaschenbier noch das Günstigste im Laden war. Wir hatten keine Ahnung vom Kiez am Stutti, aber als mein Blick auf die Preisliste fiel, wurde mir klar, dass mit dieser Kneipe was nicht stimmen konnte. „Fünf Mark fürs Bier!“, dachte ich und erschrak. Da konnte doch was nicht stimmen. Und so war es dann auch. Wir setzten uns an einen der kleinen runden Tische und besprachen die Lage. Kaum hatten wir uns so halbwegs mit dem Wucherpreis arrangiert, kam eine etwa vierzigjährige, füllige, gelockte Schwarzhaarige auf uns zu. Sie setzte sich direkt neben mich und ich konnte ihre dicken Möpse unterm Netz-Pulli baumeln sehen, als sie auch schon damit begann, mir das Knie zu massieren. „Na, mein Kleinär, sisst sähr traurick aus?!“ sagte sie in ihrem griechischem Akzent. Ich sah die anderen beiden an. Keiner schien irgendwie Anstalten zu machen, mir aus der Patsche zu helfen. Sie saßen einfach nur da, süffelten an der Flasche und starrten auf die Möpse. Zur Hilfe, dachte ich. Ich war gerade achtzehn geworden und die Frau da war genau so alt wie meine Mutter und ich dachte, oh Gott, was mach ich jetzt bloß. Mich überkam sowas wie hilflose Panik und ich stammelte entschuldigend „neinnein, mir fehlt nichts, das… äh… das Bier ist teuer“. Aber sie ließ nicht locker. „Aber icch säh doch“. Da hatte sie auch recht. Mir ging es gerade überhaupt nicht gut bei der Vorstellung, dass sich meine Mutter auf einen Achtzehnjährigen stürzt. „Lass uns sofort abhauen hier“, sagte ich. Sie setzte noch irgendwas nach, dass wir auch zusammen aufs Zimmer gehen könnten, aber da waren wir schon auf der Flucht und stürzten die Treppe runter raus auf den Stutti.
„Boah, Männer!!“, rief ich aus, „das war ja mal ne Pleite“ und die beiden nickten und lachten und tatsächlich pleite waren wir auch. Das gemeinsame und verbliebene Münzgeld reichte jetzt auch nicht mehr für drei, sondern nur noch für zwei Bier zum Normalpreis, aber irgendwo würde man uns schon noch aufnehmen. Immerhin hatten wir noch Kippen. Und einen langen Nachhauseweg durchs gute, alte West-Berlin, wo es immer was zu sehen gab.
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