Früher brachte ich Stunts, die James Bond zur Ehre gereicht hätten. Echt jetzt. Wenn ich sie heute nacherzähle, kann ich es selbst kaum glauben, aber so war es.
Nach meiner Ausbildung gammelte ich schon eine ganze Weile in meinen ofenbeheizten dreißig Quadratmeter mit Außenklo rum. Es gab keine Jobs und wenn es welche gab, dann hatten sie was mit früh aufstehen zu tun und das lag mir nicht so. Ab und an schaute ich beim Arbeitsamt vorbei. Ansonsten genoss ich mein Dasein und rauchte Pflanzen, von denen ich eine beachtliche Menge in meiner Wohnküche großzog. Wenn ich einen Termin hatte, bei dem ich morgens früh raus musste, gab es eine ganze Reihe von Schaltuhren, die mich in einer geschickt ausgetüftelten Reihenfolge darauf aufmerksam machten, dass es für irgendwas Zeit war. Die Kaffeemaschine war zuerst dran, dann der Heizstrahler wenn es noch zu kalt war, um das warme Bett zu verlassen. Anschließend die Herdplatte mit dem Wasser im Kessel, das ich zum Waschen brauchte. Fünf Minuten später folgte das Küchenlicht, die Musikanlage, der Radiowecker und schließlich die restlichen Lampen – alle so nach und nach, angefangen mit der am Bett. All das geschah, ohne dass ich mich auch nur regte, weil der Begriff „Der schläft wie’n Stein“ eigentlich wegen mir erfunden wurde. Zur Sicherheit stellte ich zusätzlich noch einen mechanischen Wecker, der ein derart lautes Klingelgeräusch von sich gab, dass es niemand ignorieren konnte – außer mir, wenn die Nacht besonders kurz und das Kraut besonders gut war. Dann drehte ich mich einfach wieder um und der Kaffee kochte ein, das Wasser lief über und das Radio war eine gute Wieder-Einschlaf-Hilfe.
Jedenfalls fiel es in diese Zeit, als ich die Aufforderung im Briefkasten fand, mich in einem winzigen Ort namens Waldbröl einzufinden. Ich hatte keine Ahnung wo das lag und musste mit Erstaunen feststellen, dass mich das Kreiswehrersatzamt ins „Oberbergische Land“ beorderte. Verdammt. Ich hatte total vergessen, mir eine Adresse in West-Berlin zuzulegen, was ein Leichtes gewesen wäre. Noch kurze Zeit vorher verbrachte ich einige Wochen in einem besetzten, aber ansonsten leerstehenden Haus in Kreuzberg, aber anstatt mich dort vorgeblich anzumelden, beschäftigte ich mich mit dem ausgiebigen Studium der örtlichen Kneipen- und Konzertszene. Und jetzt hatten sie mich also wirklich noch dran gekriegt, obwohl ich die ganze Zeit über hoffte, dass sie mich als hoffnungslosen Fall einfach aufgegeben hatten. Schließlich waren sechs Jahre seit meinen vergeblichen Bemühungen vergangen, durchs Raster zu fallen.
Dabei hatte ich damals alles versucht, nachdem ich zunächst als „vorübergehend untauglich“ abgestempelt wurde. Ich dachte mir; wenn ich schon so fast ausgemustert werde, brauche ich nur eine Reihe von Attesten und schon kann ich mir den Zivildienst sparen – denn Bundeswehr kam auf gar keinen Fall in Frage. Man wird ja nicht einfach so als Pazifist geboren. Das muss man sich schon erarbeiten und fünfzehn Monate irgendwelchen Befehlen hinterher hecheln, hätte diesen Prozess der friedlichen Evolution doch sehr gestört. Also besorgte ich mir eine Reihe von Papieren, die mir diverse gesundheitliche Einschränkungen bezeugten. Ich simulierte Unschärfe beim Sehtest, stellte mich beim Orthopäden krumm hin, erzählte von andauernden Kopfschmerzen beim Neurologen und behauptete, nahezu taub seit einem Rockkonzert zu sein, nachdem mir das Trommelfell wegflog. Das alles führte paradoxer Weise zum Ergebnis, dass man mich als eingeschränkt tauglich bewertete! Ich verstand das alles nicht mehr, aber vergaß es auch irgendwann, weil ich von dem komischen Verein jahrelang nichts mehr hörte. Aber jetzt lag sie vor mir, diese Vorladung zur vierwöchigen Grundschulung. Anschließend sollte ich mich in der Uniklinik vorstellen. Nicht wegen meinen unzähligen Attesten, sondern um dort den Dienst für zwanzig lange Monate anzutreten. Tatsächlich hatten sie mich also weder vergessen, noch aufgegeben, obwohl mir beides für so lange Zeit plausibel erschien.
Die Zeit vor der Schulung verbrachte ich erfolgreich mit dem Verdrängen derselben, aber dann rückte der Tag immer näher und ich beschloss, den großen Abschied in die weite Welt gebührend zu feiern, indem ich am Vorabend der Fahrt alle meine Freunde zum ausgiebigen Aufrauchen der noch vorhandenen Vorräte einlud, was erstaunlich großen Anklang fand. Ich bereitete Kaffee und Wasserkessel und Radiowecker und alles Andere vor, damit ich morgens mit ausreichend Zeit zum Packen aufwachen würde, entkorkte den Roten und dann konnte das losgehen. Gegen Drei verzog ich mich dann ins Bett, weil ich fand, dass ein paar Stunden Schlaf bis zur Abfahrt um Zehn nicht schaden konnten und während die Letzten um Fünf gingen, war ich längst im Land der Träume und schlief fest und tief meinem Stunt des Lebens entgegen. Denn wenn von allen wichtigen Dingen, die ich vorher hätte erledigen können und von denen nicht eine einzige Sache, außer dem Bereitlegen der Vorladung und Fahrkarte erledigt war, etwas unbedingt hätte erledigt werden müssen – dann war es die Inbetriebnahme meiner Zeitschaltuhren-Aufwachkette, ohne die ich hoffnungslos verloren war. Und die Einberufung lag eigentlich auch nur deswegen auf dem Tisch bereit, weil ich sie während der Feier jedem einzeln zeigen musste und weil sie als Mischunterlage fürs Dope diente.
Also schlief ich wie gewohnt in einem Zustand zwischen Stein und Vulkanasche, als mich dann doch im Traum eine Art schlechtes Gewissen plagte, irgendwas vergessen zu haben. Außerdem musste ich dringend aufs Klo und als ich zurückkam und stolz übers Wachwerden die Disco-Kaffee-Lichterkette anschloss, fiel mein Blick auf die Zeitschaltuhr vor mir, die unmissverständlich Neun Uhr Dreißig anzeigte. Neun Uhr Dreißig! Exakt achtundzwanzig Minuten bis zur Abfahrt des Zuges, den ich auf keinen Fall verpassen durfte, weil die Fahrkarte nur für diesen Zug gültig war. Angesichts der Drohungen auf der Vorladung für den Fall, dass ich nicht wie angegeben um 16 Uhr in einer Jugendherberge im oberbergischen Waldbröl antrat, versuchte ich mich für einige Sekunden darauf zu konzentrieren, den Kopfschmerz wegzudrücken, um wenigstens darüber nachzudenken, was mich retten könnte. Dann riss ich den Kleiderschrank auf, hechtete in die Jeans und das erste greifbare T-Shirt, stopfte hektisch alles in die Tasche was ich finden konnte und was dort reinpasste, griff Vorladung, Fahrkarte, Zahnbürste, Jacke und stürzte aus der Wohnung schneller, als jede Hexe hätte fliegen können.
Mir blieben noch genau 19 Minuten, als ich auf die Straße fiel und darüber fluchte, dass nie ein Taxi da war, wenn man es brauchte. Abgesehen davon war ich sowieso bis auf wenige Münzen in meiner Jeans ohne Geld rausgestürzt, also fing ich wie Lola besinnungslos an, Richtung Bahnhof loszurennen. Der Bahnhof unserer Stadt war nicht allzu weit von meiner Wohnung entfernt, aber auch wenn man völlig ohne Gepäck und in vielleicht angemessener Kleidung, konditionell dazu in der Lage, ausgeschlafen und vorbereitet hingerannt wäre, hätte man die Strecke auf mindestens 15 Minuten schätzen müssen. Es blieb einfach keine Zeit, darüber nachzudenken und ich rannte drauf los, was ich konnte. Ab und zu querte ich die Straßen, indem ich Autofahrer mit hochgehaltener Tasche, sozusagen als Aufprallschutz, zum Bremsen zwang und wenn ich mir diesen Film heute nochmal ansehen könnte, müsste ich wahrscheinlich in den Zeitlupenmodus schalten, um ihm zu folgen. Am Bahnhofsvorplatz fiel mir die Tasche aus der Hand, weil einer der Henkel abriss, aber ich schafft es tatsächlich, eine Minute vor Abfahrt in die Bahnhofshalle zu hechten, sprang die Treppen zum Gleis hoch, hörte das Abfahrtssignal der Trillerpfeife und sah beim Ankommen, wie sich der Zug in Bewegung setzte.
Jetzt war eh alles egal und ich sah zu, dass ich parallel zum Zug, der rasant an Fahrt aufnahm, auf dem Bahnsteig noch mitkam. Dann riss ich die erste mir greifbare Zugtür auf und unter allerlei Trillerpfeifen und Halt-Rufen der Bahnwärter wuchtete ich die Tasche in hohem Bogen rein, glich den Laufschritt der nächst folgenden Tür an und riss die ebenfalls auf, um mich über das Trittbrett selbst in den Zug zu hebeln, während der Zug unvermindert weiter beschleunigte. Als ich vornüber auf die harte und kalte Eisenplatte zwischen den Waggons fiel, hörte ich die Tür hinter mir automatisch zuknallen. „Na also“! – dachte ich. „Geht doch“.
Ich blieb dort erst mal minutenlang liegen, was mir das Vernünftigste erschien, um meinen rasenden Puls wieder auf ein artgerechtes und lebenserhaltendes Maß zu bringen. Als ich endlich mit dem Hecheln fertig war und wieder aufstehen konnte, suchte ich die Tasche im Waggon vor mir, wo sie auch prompt wie absichtlich dort abgestellt friedlich in der Ecke stand. Dann verschwand ich im nächsten Klo das ich fand, schloss von innen ab und rauchte erst mal eine, um wieder runterzukommen. Ich zog das Shirt aus, wusch mich mit der geriebenen Bahnkernseife aus dem Drehspender, so gut es eben ging und versuchte, nur so auszusehen wie jemand, der sich halt verspätet hat. Als ich damit fertig war, betrachtete ich mir, was ich so alles in die Tasche gestopft hatte, als ich die Wohnung wie Dr. Kimble auf der Flucht verließ. Nun gut, die Feuerzeugsammlung konnte ich sicher gut gebrauchen und vier Wochen lang in einer Jeans stecken, das ging ja irgendwie noch. Aber über das Problem, keine Socken, kein Dope und nur Sechs Mark Vierundachtzig zu haben, musste ich noch nachdenken. Ich las die Instruktionen in der Vorladung nochmal durch und fand schließlich auch die anderen, die gemeinsam mit mir zur Schulung fuhren, setzte mich auf meinen reservierten Platz und als wir uns gegenseitig vorstellten sagte einer, draußen habe irgend ein Irrer noch bei der Abfahrt versucht, auf den fahrenden Zug aufzuspringen und dass es ein großes Gepfeife und viel Geschrei auf dem Bahnsteig gab.
„Ja“, sagte ich. „Ich weiß. Hat jemand von Euch Socken übrig“?
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