[Bild: Acescouthall_Themagicofboogiewoogie_Flickr]
Zum Tod von Charlie Watts.
In seinen späten Teenagerjahren, in den frühen Sechzigern, war Charlie Watts ein ausgeglichener und unerschütterlicher junger Mann. Er war Schlagzeuger und mochte den Jazz, wenn auch eine etwas kuriose britische Vorstellung davon, was Jazz damals war. „Trad Jazz“ klang sehr nach dem, was die Amerikaner Dixieland nannten. Sofern die Berichte stimmen, lebte er anschließend fast sechs Jahrzehnte in einer monogamen Beziehung mit Shirley Ann, die er 1964 heiratete. Und wenn man ihm anfangs der Sechziger eine Stellung angeboten hätte, hätte er die wahrscheinlich genauso unbeirrt besetzt, wie er für die Stones das Schlagzeug bearbeitete: Unaufgeregt, professionell und verdammt anpassungsfähig an die Launen seiner Vorderleute.
Vermutlich hätte er sein Leben in glücklicher Dunkelheit verbracht, aber als Charlie ein Teenager war, stand die Gesellschaft um ihn herum massiven Veränderungen gegenüber. Er wuchs als ein klassisches Kind der Arbeiterklasse in Wembley, nordwestlich von London auf. Jahrzehnte später wurde der Ort vor allem für ein riesiges Stadion bekannt, in dem die Stones natürlich auch irgendwann spielten. Besessen vom Jazz, fasziniert vom Saxophon im Stile eines Earl Bostic oder dem Schlagzeugspiel von Chico Hamilton, bekam er sein erstes Schlagzeug mit 11 Jahren. Kunst war sein Lieblings-Schulfach und als er sich später dem Be-Bop und insbesondere Charlie Parker zuwandte, sah man ihn immer häufiger in der Londoner Trad-Jazz-Szene in verschiedenen Schüler-Bands spielen.
Dann wurde die Szene von einer neuen Sorte amerikanischer Musik aufgewühlt, die in London eine ungepflegte, aber treue Anhängerschaft entwickelte. Sie waren besessen von Platten schwarzer Musiker aus Amerika. Liedern, die auf schweren Langspielplatten im Versandhandel nach England kamen. Dunklen und pumpenden Visionen aus einer tausend Jahre entfernten Kultur und Gesellschaft, gespielt von Muddy Waters und Howlin‘ Wolf und Elmore James. Drei dieser Londoner Kids – Jagger, Richards und ein blonder, dekadenter und unfassbar talentierter Gitarrist namens Brian Jones – wollten genau diese Musik machen. Aber sie brauchten einen Schlagzeuger, der das mitmacht. Und davon gab es in London zwar viele, aber für diese Art von Musik wenig Begabte.
Watts war als Musiker ein Purist und so spottete er sowohl über Rock’n’Roll als auch über den Blues und es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass die Geschichte stimmt, nach der „It’s only Rock’n’Roll“ auf einen Ausspruch von Watts zurückgeht. Andererseits gilt es als sicher, dass er unabhängig von der Musik, die sie spielten, etwas im Potential der Rolling Stones erkannte. Keith Richards erzählt in seiner Biografie LIFE, dass Watts ihn Ende 1962 mit den Worten ansprach: „Du bist großartig, Mann, aber du brauchst einen verdammt guten Schlagzeuger. Und Richards antwortete: „Charlie, wir können uns dich nicht leisten, Mann.“ Watts hatte einen Job bei einer Werbeagentur und war nur an Wochenenden verfügbar. Außerdem spielte er überall, in mindestens drei verschiedenen Bands und die Stones brauchten das Geld jedes einzelnen Gigs. Aber da es schon Ende 62 vier Auftritte pro Woche waren, hätten sie ihn so nicht einsetzen können. Aber schließlich ließ er sich dann doch überzeugen, nachdem er noch kurz zuvor „Blues Incorporated“ verließ, weil er sich als nicht gut genug empfand, um mit solch ausgezeichneten Künstlern zusammen zu arbeiten.
Seit Januar 1963, als Watts einstieg, wuchs der Ruf der Band kontinuierlich. Das noch kleine Publikum stand vor allem auf Jones, der mit seiner Annäherung an die Slide-Gitarre von Elmore James bei einem Song wie „Dust My Broom“ die Menge mitriss. Und sie begannen langsam aber sicher immer mehr den Leadsänger zu bemerken, der klein war und für die damaligen Teenie-Idol-Verhältnisse „rohe“ Züge hatte, aber immer noch die Aufmerksamkeit eines Clubs auf sich ziehen konnte, wenn er auf einem Tisch zum Singen stand. Ein anspruchsvolles Ohr hätte bemerkt, dass diese Ehe möglicherweise in die Brüche gegangen wäre, wenn die Gruppe nicht eine solide, versöhnliche Kulisse für ihre Musik in der Form von Watts‘ Schlagzeug gehabt hätte.
Watts entwickelte schon bald eine fast mystische Verbindung zu Richards, der, wie sich schnell herausstellte, selbst ein Signaltalent war. „Das ganze Herz und die ganze Seele dieser Band waren wir beide“, schrieb Richards in LIFE. „Ich meine, das ist jedem klar, der atmet oder einen musikalischen Knochen im Körper hat. Dort befand sich der Maschinenraum.“ Richards‘ Gitarrenspiel entwickelte sich. Es wurde schwer fassbar und manchmal verdreht, manchmal deutete es auf Dinge hin, die nicht da waren, aber immer rund um den Crack-Beat von Watts gebunden.
Die Stones waren schmutzig und unhöflich und sie spielten eine Musik, von der in England kaum jemand gehört hatte. Aber es gab eine einzigartige Alchemie in der Band, und sie drehte sich um Watts, dessen Autorität so groß war, dass er mit den anderen Spielern auf eine Weise interagierte, wie kein anderer Schlagzeuger dieser Ära. Keith Moon von „The Who“ war natürlich ein wilder Mann, marschierte aber musikalisch immer zu seinem eigenen Idol; Ringo Starr. Der wiederum wurde auf frühen Beatles-Aufnahmen manchmal durch einen Studio-Session-Mann ersetzt – und ein Virtuose wie Ginger Baker musste sich erst noch bemerkbar machen. Watts zentrierte die Band musikalisch – und auf eine gewisse Weise auch intellektuell.
Watts hatte Schwung. Von Anfang an waren die Rolling Stones in ihrem Beat einzigartig und hatten einen unwiderstehlichen Groove, der sich von der sturen Arbeit anderer Bands abhob. Dazu kamen die Feinheiten von Watts‘ Interaktionen mit den anderen vor ihm auf der Bühne. Bill Wyman kam spät dazu – und er arbeitete mit Watts im selben Gleichschritt zusammen, wie es jede anständige Rhythmuscombo tun würde. Aber Wyman war ein Minimalist, der es für seine Aufgabe hielt, seine Rolle so unauffällig wie möglich zu halten. Das gab Watts mehr Raum für Interpretation, als die meisten anderen Schlagzeuger hatten. Und er nutzte ihn.
Gleichzeitig ließ sich Jagger, wenn überhaupt von irgendwem auf dieser Welt, nur von Watts in seiner Performance beeinflussen, den er wie einen großen Bruder bewunderte. So waren alle Stones voller Ehrfurcht vor James Brown, den sie aus der Nähe beobachten konnten und sowohl Jagger als auch Watts wussten zu schätzen, wie Brown mit seinen Schlagzeugern interagierte. Watts sagte, er habe Jagger immer auf der Bühne beobachtet und versucht, seine Bewegungen vorherzusehen. Dieser wiederum achtete bei aller Extravaganz, die sowohl er als auch Richards in der Band eindrucksvoll zur Geltung brachten, auf den freien Lauf der Sticks von Watts. Denn er wusste insgeheim, dass dort das Herzstück seiner Band saß, auch wenn er es öffentlich nie aussprach. Schon bald nutzten sie seinen Sound, um ihre bemerkenswertesten Songs voranzutreiben. Wie die brutalen acht Beats, die „Paint It Black“ einleiten.
1964 waren sie bereits Stars in England und sollten in den USA zur Sensation werden. Sie waren reich und berühmt, spielten in ganz Großbritannien turbulente, gewalttätige Shows und standen im Zentrum einer Bewegung, die die westliche Gesellschaft erschüttern sollte. Watts schlich sich zu diesem Zeitpunkt davon und heiratete seine langjährige Freundin Shirley. Er hat seinen Bandkollegen wochenlang nichts davon erzählt.
Im Laufe der Jahrzehnte wurde die Band immer erfolgreicher. Er jedoch blieb höflich und leise. Die Stones spielten immer größere Shows und brachten immer größere Gehaltsschecks ein. Watts blieb sich selbst treu und beobachtete das Leben vom Stuhl des Schlagzeugers aus. „Für Charlie war es enorm schwierig, als Teenie-Idol zu leben, weil er überhaupt nicht so ist“, schrieb Richards. „Charlie Watts ist für mich der ehrlichste Mann der Welt – für sich selbst, für alle. Er wollte nie ein Popstar werden. Es lässt ihn immer noch zusammenzucken.“ Wyman zitiert Watts‘ beißende Zusammenfassung der Karriere der Band in einer seiner Memoiren: „Fünf Jahre Arbeit, 20 Jahre Abhängen.“
Watts hat die berühmt giftige Umgebung der Rolling Stones nicht vollständig überlebt. Er mied die Drogen von Anfang an, aber in den 1980er Jahren (während der dunklen Jahre von Jaggers Solobemühungen), begann er zu trinken und wandte sich dem Heroin zu. Er liebte gut sitzende Anzüge und zeigte das auch gerne. In den 1990er Jahren trug er stets einen maßgeschneiderten Zweireiher auf der Bühne und landete schließlich in der „International Best-Dressed Hall of Fame“ der Vanity Fair. Aber er wäre nie auf die Idee gekommen, wie ein Hardrock-Schlagzeuger auf seinen Trommeln herumzuwirbeln und gierte nie nach einem Extra-Applaus für seine Künste. Die Vorstellung eines Schlagzeugsolos von Watts bei einem Rolling Stones Konzert war einfach undenkbar. Er hat einfach nur seinen Job gemacht und er verpasste in seiner gesamten Karriere als Schlagzeuger für die Band keine einzige Show.
Auf Platten setzte ihn die Band immer mit guter Wirkung ein, verzögerte seinen Auftritt manchmal um mehrere Takte, wie bei „Brown Sugar“ oder „Monkey Man“ und manchmal leitete sie die Songs mit ihm („Under My Thumb“) ein. Dies geschah häufig im Laufe der Jahrzehnte und nach meinem Eindruck immer dann, wenn die Band zeigen wollte, dass sie noch voller Energie war. Wie 1989, bei Watts wütendem Ausbruch zu Beginn von „Mixed Emotions“. Später konnte er sich bei Bedarf zurückziehen: Was brauchte „Gimme Shelter“ denn sonst noch, außer dieser steinharten Kulisse der kreischenden Chöre? Aber immer wieder waren Stones dann am besten ROLLED, wenn Richard und Watts allein zusammen spielten, wie in den Eröffnungstakten von „Street Fighting Man”. Das war die Essenz von allem, es war der Herzschlag der Band.
Und wer die Talente von Watts in seiner reinsten Form hören möchte, der tut sich einfach mal wieder „Jumping Jack Flash“ an, in dem Watts‘ Drumming aus der Dunkelheit aufsteigt und dann seinen Platz einnimmt, um den Beat als Co-Lead-Instrument mit Richards Gitarre nach vorn zu pushen: Während sich der Song durch Refrain und Strophe und ausgedehnte instrumentale Breaks schlängelt, ist seine Präsenz unnachgiebig. Jagger und Richards predigten (und lebten weitgehend von) Hedonismus und Exzessen. Wir vergessen manchmal, dass ihr Lebensstil und ihr Ruhm auf einer Kunst beruhen, die paradoxerweise Kontrolle und Geschmack zeigte. Jagger und Richards waren natürlich unaufhaltsame Talente. Dennoch könnte man argumentieren, dass die Rolling Stones ohne die Künste von Charlie Watts kleiner und ihre musikalische Kraft mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit schlicht schwächer gewesen wäre.
Danke, Mann. Für fast sechs Jahrzehnte Heartbeat.
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