Ziemlich beste Freunde kamen und gingen andauernd. Ich lernte schnell welche kennen und oft folgten darauf intensive Phasen, in denen ich sie quasi täglich sah und plötzlich waren sie wieder weg. Das passierte mir so häufig, dass ich eine Liste meiner besten verschwundenen Freunde führte. Ich würde zu gerne wissen, was aus ihnen geworden ist, an was sie sich erinnern und vor allem, wie sie sich an mich erinnern. Enrico war einer davon.
Es war in meinem Achtzehnten und ich fuhr meinen ersten Opel Kadett B, der kaum älter als ich war. Enrico lernte ich auf einer Feier kennen, kann mich aber heute nicht mehr daran erinnern, wen oder was wir befeierten. Das war damals andauernd so. Wir gehen heute hier oder da hin, hieß es und wenn ich denjenigen nicht kannte, der eingeladen hatte, war es auch egal. Abends versuchte ich mich an die Adresse zu erinnern, kaufte ein Sixpack Bier an der Tanke, klingelte an der Tür und wenn irgendjemand aufmachte, dann meistens einer, der auch nur zufällig dort gelandet war und nicht wusste, worum es bei der Feier ging. Jedenfalls erzählte mir dieser Enrico noch vor dem dritten Bier, dass er sich bei der Bundeswehr für zwölf Jahre verpflichtet hatte. Und weil das eine verdammt lange Zeit werden würde, wolle er am nächsten Tag nach Maastricht fahren, um eine größere Menge Dope einzukaufen. Ich hatte es ohnehin satt, mich wegen jedem kleinen Krümel wie ein Krimineller in irgendwelchen Hecken rumzutreiben und da kam mir das Angebot gerade recht. Wie sich rausstellte, hatte Enrico keinen Wagen und auch keinen Führerschein, weswegen das Angebot, mit ihm zu fahren, eher so gemeint war, dass ich ihn dort hinfahren sollte. Außerdem könne er mir kein Spritgeld geben, sagte er, aber eine beachtlicher Anteil der Haschischplatte sei meiner, wenn das so okay wäre. Tags darauf fuhren wir ins gelobte Land.
Als wir ankamen, suchten wir jemanden namens Piet, dessen Adresse er von einem losen Kontakt in Amsterdam erhalten hatte, was sich als recht kompliziert erwies. Uns hätte höchstens eine Stadtkarte geholfen und wir hatten keine, also fragten wir uns durch. Da wir keine Polizisten oder sonstigen Staatsdiener nach der Adresse eines stadtbekannten Dealers fragen wollten und der holländischen Sprache nur sehr rudimentär oder eigentlich gar nicht mächtig waren, dauerte es eine gute Stunde an Kreisverkehren, Sackgassen und Missverständnissen, aber schließlich fanden wir es dann doch noch. Es war ein unspektakuläres Reihenhaus am Stadtrand und die Tür stand offen. Wir klopften an. Aus dem Wohnzimmer klang eine Glotze, aber es war niemand zu sehen. „Piet?“, rief Enrico. „Piet?“ und schob de Tür auf. Dann hörten wir von oben die Dielen knarren und jemand kam die Treppe runter. Einen kurzen Moment erfasste mich Panik, aber dann erinnerte ich mich, dass ich nichts zu verlieren hatte, außer der Zeit für einen Ausflug ins Abenteuer. Enrico hatte immerhin fünfhundert Mark in der Tasche und nicht mal ’ne Ahnung, wie dieser Piet aussah.
„Goedemorgen. Kom op!“ rief eine weibliche Stimme und als sie wir sie auf der halben Treppe dort oben stehen sahen, staunten wir nicht schlecht. 15 Jahre später, als ich zum ersten Mal Pulp Fiction sah, fiel mir genau diese Szene wieder ein. Es war die Frau mit dem ganzen Blech im Gesicht. Sie sah total abgemagert aus. Außerdem war sie übersät mit Tattoos, weswegen uns zuerst auch gar nicht auffiel, dass sie fast nackt war. Sie hatte sie so viele Ringe, Stifte und Stecker über ihren ganzen Körper verteilt, dass man damit einen gut sortierten Piercingstore hätte ausrüsten können. Wir starrten sie an wie ein Weltwunder. „Kom op“, sagte sie nochmal – und wir folgten. Der Anblick ihrer bemalten Silhouette mit dem ganzen Metall an ihr war so skuril, dass wir alles andere einfach vergaßen. Außer ihrem Slip hatte sie nichts weiter an, aber statt auf Brüste oder Beine zu starren, sahen wir uns ihre Vögel, Schlangen und Wolken an. Oben waren die Zimmer vom Sonnenlicht abgedunkelt. Sie wies uns zwei Sessel, dann verschwand sie wieder und ein Typ, den wir für Piet hielten, erschien auf der Bildfläche. Der war genauso übersät mit Tattoos, wie seine Freundin, selbst das Gesicht war dunkel bemalt, aber an ihm wirkte es furchterregend und abstoßend und überhaupt war das die Sorte muskelbepackter Mensch, denen man besser nicht widerspricht. Er fragte uns auf englisch was wir wollten und Enrico erzählte ihm, woher wir seine Adresse hatten. Dann verschwand er wieder und während wir uns umschauten, kam die magere Frau mit dem Blech im Gesicht und brachte uns zwei Gläser Grapefruit-Limonade, die vorzüglich schmeckte. Dann kam Godzilla wieder rein und wir verbrachten eine Zigarettenlänge lang mit Limo und Smalltalk.
Als es gerade so richtig gemütlich wurde, zog er die größte Haschischplatte, die ich je in meinem Leben sah, aus einer Schublade und erklärte uns, die sei dreitausend wert. Enrico sagte, er hätte fünfhundert dabei und ich dachte: Nicht mehr lange. Er sah uns an, als ob wir ihm einen schlechten Witz erzählt hätten. Anscheinend hatte er mit einem größeren Umsatz gerechnet. Dann packte er das in Folie eingeschweißte Paket wieder weg und öffnete das Holzkästchen auf dem Tisch, in dem ebenfalls reichlich Dope rumlag. Er wog Stoff für fünfhundert ab und schob ihn uns rüber. Es erschien mir immer noch verdammt viel Zeugs und es roch auch sehr lecker. Enrico und ich sahen uns an, nickten einander zu und Enrico kramte die Scheine raus. Ob wir es jetzt testen wollten, fragte der Mann aus der Hölle. „Nein danke, Piet“, sagten wir synchron und ich schob nach, dass wir noch einen weiten Weg nach Hause hätten. Er schaute uns schräg an und schien irgendwie misstrauisch zu werden, aber als wir unten durch die immer noch offen stehende Tür wieder nach draußen ins Tageslicht traten, stand meine fahrbare Badewanne genauso vertraut da, wie wir sie verlassen hatten. Bis auf den grimmigen Piet, der vielleicht auch ein ganz Anderer war, hätten wir auch wegen ein paar Jimi Hendrix-Platten hier sein können, dachte ich mir. Aber so entspannt sollte es nicht bleiben.
Im Kadett begann Enrico damit, unseren Einkauf in Isolierband zu verpacken. Das hatte er in French Connection gesehen. „Damit die Hunde nicht anschlagen“, sagte er. „Wenn sie Hunde haben, schlagen die sowieso an“, sagte ich. Immerhin hatten wir in Aussicht auf frischen Stoff unsere vorhandenen Reste auf dem Hinweg im Kadett verquarzt. Wir klemmten das Paket hinters Handschuhfach, was in meiner alten Karre ein Leichtes war, weil man sich mit etwas Geschick vom Fußraum aus verrenken konnte, um es von unten aus in eine dahinter querliegende Röhre zu schieben. Wir verklebten alles fein säuberlich so ab, dass wir selbst nicht mehr ohne Weiteres drankamen. Dann kurvten wir rüber nach Belgien, weil die Grenze zwischen diesen beiden Ländern noch nie besetzt war und weil uns der Rückweg über Belgien und Luxemburg sicherer erschien. Immerhin hätten wir auch nur wegen des billigeren Alkohols, dem Benzin und der Zigaretten von einem Ausflug nach Luxemburg zurück kommen können. In Richtung Fürstentum suchten wir uns den kleinsten Grenzübergang von allen aus. Er lag direkt hinter einer Brücke und es sah alles nach einer gemütlichen und völlig stressfreien Fahrt über den Grenzfluss ohne jegliche Kontrolle aus, als ausgerechnet kurz vor dem Schlagbaum ein dicker Zöllner aus dem Wartehäuschen stolperte und uns mit seiner Kelle stoppte. Es muss total komisch ausgesehen haben, wie wir ihn beide hinter der Scheibe heraus anstarrten, kurz nachdem ich zu Enrico sagte, dass es diesmal sehr entspannt werden würde und ich von nun an nur noch diese Strecke wähle.
Es war wieder mal soweit. Meine Badewanne zog die Zöllner magisch an. Zwei wilde Kerle in einem Oldtimer entsprach exakt dem Bild, dass die Grenzer von Drogenkonsumenten hatten und naja, eigentlich war es auch genau das. Was mich ärgerte, war vielmehr die Tatsache, dass sie alle anderen mit den neuen und großen Limousinen einfach so durchwinkten, obwohl ich der festen Überzeugung war, dass sie nur deswegen diese scheußlichen Autos hatten, gerade weil es was zu verbergen gab. Der dicke Zöllner kontrollierte die Papiere. Dann kam noch ein Zweiter aus dem Häuschen und sagte, wir sollen aussteigen uns sie begannen damit, den Innenraum zu durchsuchen. Ich versuchte, die Nervosität wegzurauchen und lehnte mich an das Brückengeländer, während ich ihnen beim Suchen zusah. Enrico tat es mir nach. Ich sah, wie der Dicke zielgerichtet hinters Handschuhfach griff und dahinter entlang strich und ich glaube, mir fiel wie bei Lucky Luke zum ersten und einzigen Mal die Zigarette aus dem Mund, aber wir hatten Glück im Unglück. Der Dicke war einfach nicht beweglich genug, um in den Fußraum zu kriechen und ob er das Band fühlte und es für ihn glatt genug war oder ob er einfach nur zu faul war, genauer nachzusehen… die Wege des Herrn sind unergründlich. Ich hob die Kippe wieder vom Boden auf. Im Kofferraum fanden sie schließlich noch ein Sixpack Bier, dass ich seit irgendeiner Fete spazieren fuhr, ermahnten uns keinen Alkohol beim Fahren zu trinken und stellten fest, dass der Verbandskasten seit 1972 abgelaufen war. Das war’s dann.
In Luxemburg fuhr ich tatsächlich noch zum Tanken. Wir kauften die zulässigen vier Stangen Zigaretten, damit sie was zum Finden hatten, aber allein der übliche Tank- und Kippentourismus reichte dann aus, um uns an der deutschen Grenze durchzuwinken. Als wir durch waren, erzählte mir Enrico, dass er ganz zufrieden damit war, an der deutschen Grenze nicht kontrolliert zu werden. Er war seit zwei Monaten nicht mehr in der Kaserne und hatte den Verdacht, dass sie nach ihm suchen könnten.
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(to be continued)
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