Inzwischen krieg‘ ich ein Gefühl für die Kiezlagen in der Stadt. Und ich brauchte eine Weile, um dahinter zu kommen. Wenn Du in Berlin beispielsweise nur fünfhundert Meter weiter ziehst – das sind mitunter zwei völlig verschiedene Welten. Nirgendwo in Berlin ist mir das bisher deutlicher geworden, als in Moabit. Es gibt dort mucksmäuschenstille Anwohnerstraßen, es gibt Mischlagen, in denen sich Altbauten der Zwanziger und moderne Wohnanlagen abwechseln, es gibt moderne, aber heruntergekommene Wohnsilos, in denen Großfamilien residieren und es gibt rund um Gotzkowsky- und Turmstraße großstädtisches Leben, das von arabischen Clans beherrscht wird. In der angrenzenden Huttenstraße gibt es eine Reihe von Restaurants, die ausschließlich arabisch beschriftet sind. Und schließlich gibt es noch das sich nach Charlottenburg ausdehnende Industriegebiet, in das ich einzog, weil ich die Nähe zur Arbeit schätzte. Aber egal, wo man in Moabit wohnt: Die Leute sind dort alle stolz drauf, aber objektiv begründen kann man es eigentlich nicht. „Moabit ist Beste“, heißt das Motto von Captain Kiez und tatsächlich ist von allem etwas da, aber nichts an Moabit ist wirklich schön. Das Beste in Kurzform:
Als ich 2010 in Berlin ankam, gab es so viel Leerstand, dass ich mir noch aussuchen konnte, in welcher Straße ich wohnen wollte. Die Stadt zählte offiziell kaum weniger Einwohner als heute und trotzdem fand nur zweihundert Meter vom Arbeitsplatz entfernt eine Wohnung, was perfekt für mich war. Gegenüber gab es ein Fabrikgebäude und darüber einen Festsaal. Der Veranstalter spezialisierte sich auf arabische Hochzeiten. Selten kamen weniger als hundert Gäste und alle parkten sie rund um unsere Straße, was mir persönlich egal war, aber meine Nachbarn mit Auto fluchten, wenn sie abends nach Hause kamen. Einmal ging ich selbst dort rein, als die Tür offenstand und sah es mir an: Fürs Brautpaar war auf einer Art Empore ein extra Tisch mit zwei goldenen Sesseln, die mehr an einen Thron erinnerten, voller Prunk und Brokat und dicken, roten Polstern, die mit Gold- und Glassteinen verziert waren. Die Tische waren darum herum angeordnet. Alle Tische waren mit Spitzendeckchen bezogen, sehr viel weiß, sehr viel rot, sehr viel gold und es glänzte wie in einem Königspalast. Selbst der Teppichboden erinnerte mehr an Polster, als an einen Teppich, so hochflorig waren seine roten und goldenen Fransen. Zu Hochzeitsfeiern war in unserer Straße mehr los, als auf dem Kudamm. Einmal kam es zum Streit zwischen zwei Clans, die irgendwie beide zur Feier eingeladen waren. Vermutlich heiratete die Braut des einen den Bräutigam des anderen Vereins und es gab reichlich lautstarken Streit und Stress und Schlägereien und Herumfuchteln mit diversen Waffen. Ich hatte einen sehr guten Logenplatz von meinem Balkon im Zweiten und bedauerte es ein bisschen, dass sie nach dem Polizeieinsatz wieder weiter feierten. Ich hätte gerne gewusst, wie das jetzt nach dem guten, alten Gesetz der Straße ausgeht.
Na jedenfalls, in dieser Straße gab es auch das Fabrikgebäude. Es wurde von mehreren Firmen genutzt, es gab darin einen Kostümfundus, einen Lebensmittelgroßhändler, ein Ausbildungszentrum für Schweißer und Dreher und einen Händler für Hygienebedarf. Direkt gegenüber meines Fensters war eine Produktionshalle. Manchmal konnte man es durch die dreckigen und ölverschmierten Glasfenster funken und sprühen sehen. Dann gab es rechts von uns einen Puff, der aus einem kleinen, werkstattähnlichen Bungalow mit vergitterten Fenstern bestand. In den Fenstern leuchteten LED-Tafeln, auf denen „OPEN“ stand. Es war immer OPEN. Direkt hinter dem Kabuff hatten die Girls ihre Zimmer in einem steilen, halb abgerissenen Wohnhaus, von dem nur noch ein Hinterhofflügel stand. Dort, wo mal das Haupthaus war, stand nur noch eine steile Brandwand, mindestens sechs Etagen hoch ohne ein einziges Fenster. Nur zur ehemaligen Innenhofseite gab es pro Etage ein winziges Fenster, was vermutlich das Klofenster war. Es sah sehr skuril aus, wenn aus jeder Etage immer nur ein Licht zu sehen war. Wenn ein Kunde kam, kamen sie runter und empfingen ihn in dem Kabuff, das anstatt des Haupthauses an der Straße stand. Dort handelten den Preis aus und dann ging es nach oben. Außer den Girls gab es nur einen, der den Aufpasser mimte, aber er saß den ganzen Tag in seiner Kammer und eigentlich bestand sein einziger Job darin, beim Klingeln in die Kamera zu schauen, wer da war und dann die Tür aufzudrücken.
Es gab noch ein weiteres Liebeszimmer in der Straße. Am anderen Ende wohnte eine in einem ehemaligen Ladengeschäft, in dem es nur die Tür und das Schaufenster gab. Das Schaufenster war den ganzen Tag verhangen und nichts deutete darauf hin, dass es hier zur Sache ging. Aber auch hier stand das kleine und verräterische Neon-Schild im Schaufenster, auf dem OPEN stand. Daher wusste es jeder, daher redete auch keiner drüber. Ich sah sie nur ein einziges Mal bei einer kundenbindenden Maßnahme. Früh morgens gegen Sieben kam sie im Morgenmantel mit einem Kunden raus, um ihn mit einem Kuss und einer Umarmung zu verabschieden. Und es gab noch was Besonderes, was diese komische, kleine Moabit-Straße betraf. Sie lag fast unmittelbar neben dem Gelände der BSR auf der anderen Uferseite des Kanals. Und die hatten um 18 Uhr Schichtwechsel. So richtig klar wurde mir das, wenn alle, die mit Kehrmaschinen draußen unterwegs waren, sich in unserer Straße sammelten, um hier für die letzten Minuten zu kehren. Dadurch waren sie schneller zurück im Depot der Stadtreinigung, wenn Schichtwechsel war, also sah man sie ab halb Sechs jeden Tag um den Block einmal rauf und einmal runter fahren, mindestens vier oder fünf von diesen Kehrmaschinen. Es war zweifelsfrei eine der saubersten Straßen der Stadt.
Etwas weiter um die Ecke gab es eine Oldtimer-Werkshalle, die wie vom anderen Stern viel besser nach Schöneberg oder Mitte gepasst hätte, denn da drin waren Stellplätze und Spezialwerkstätten für allerlei gepflegte Oldtimer, sehr viele Edelmarken hinter Glas und sogar drum herum parkten die schönsten Modelle aus dem vorigen Jahrhundert. Etwas weiter fand man die denkmalgeschützte Turbinenhalle der AEG und dann fingen auch schon die arabischen Restaurants an, wenn man die Berlichingenstraße überquerte, in der passender Weise das Arbeitsamt in einem uralten Backsteingebäude untergebracht war. Und einmal im Monat ging es zu Captain Kiez, der ein kleines und leerstehendes Ladenlokal für seine Show buchte. Oft waren zehn, zwölf gute Kleinkünstler auf der Bühne und es wurde gelesen, geturnt, gespielt und gezaubert. Nichts von dieser wunderbaren Schau hatte irgendwas mit meinem eigenen Kiezleben oder den übrigen Straßenbildern Moabits zu tun, aber es gehörte einfach dazu wie jeder weiterer, komisch bunter Farbklecks, der unter dem Motto „Moabit ist Beste“ irgendwas zu feiern hatte. Das Beste daran war offensichtlich, gerade dann dort zu sein, wenn Moabit sich selbst feierte. Mehr Anlass war dazu auch nicht nötig.
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