Ich träumte mal was echt Seltsames. Nicht, dass es mir an originellen Träumen mangelt. Ich bin sehr kreativ drin. Oft passieren die wundersamsten Stories mit so viel Handlung und Action, dass ich mich morgens kaum noch an alles erinnern kann, was schade ist. Wenn es irgendwem gelingen würde, den ganzen Mist abzuzapfen – so viel Fantastisches kann man sich einfach nicht aus den Fingern schreiben! Meistens sind die Träume absolut konkret und real. Sie folgen einem klaren Handlungsstrang und während neue Schauspieler hinzu kommen, verschwinden andere wieder. Oft erinnere ich mich an die Dialoge und konstruiere hammerharte Zusammenhänge, von denen mir der Ursprung selten klar ist. Neulich hatte ich Sex mit den Ratiopharm-Zwillingen, aber das wollte ich gar nicht erzählen. Nein, der Traum um den es in dieser Geschichte geht, war so beängstigend wirklich, dass ich nach dem Aufwachen erst mal lange darüber nachdenken musste, warum ich nicht in meiner Stammkneipe stand, sondern im Bett rumlag und wie ich von der Theke ins Bett kam, obwohl ich doch gerade noch am Erzählen war, was mir passierte.
Der Traum geschah wenige Nächte nachdem mich die Nachricht erreichte, dass mein Freund Ben sich das Leben nahm. Er hatte sich nach einer durchzechten Nacht frühmorgens betrunken auf die Fensterbank seiner Wohnung in der dritten Etage gesetzt, saß dort stundenlang mit einigen Dosenbieren und ließ sich dann ungebremst auf den Asphalt fallen. Ob er das tatsächlich so wollte oder einfach nur eingeschlafen war, ließ sich nie klären. Beides war möglich. In den letzten Tagen seines Lebens rief er so ziemlich jeden an, den er kannte. Auch mich. Aber er meldete sich nur und brachte dann einfach keinen weiteren Ton mehr raus. Ich erinnere mich genau an diesen Anruf und versuchte ihn zum Reden zu bringen, aber es half alles nichts, wie sehr ich es auch versuchte. Irgendwann gab ich es dann auf, weil der Pizzalieferant vor meiner Tür stand. Ich entschuldigte mich bei Ben und legte auf.
Wir alle waren solche Stunts wie den Fenstersturz von ihm gewohnt – nicht gerade aus der dritten Etage, aber er überlebte solchen Quatsch jedes Mal. Als Säufer gehörte er zur Fraktion der Spiegeltrinker, weswegen er für andere oft völlig unerwartet reagierte. Er hatte keine Hemmungen. Vor gar nichts. Was wiederum zu Dutzenden von filmreifen Abenteuern führte. (Drei davon habe ich hier verarbeitet: 1 / 2 / 3). Als er damals damit anfing, seine Freunde anzurufen, war er schon seit Wochen kaum noch erträglich. Seine Depressionen machten ihn fertig. Wir alle liebten sein Lachen, aber schon seit Monaten hatte ihn keiner von uns mehr lachen hören. Er kriegte das Leben einfach nicht mehr auf die Reihe, obwohl es gerade ihm – einem Menschen mit außergewöhnlicher sozialer Intelligenz – möglich gewesen wäre, dem Ganzen eine Kehrtwende zu verpassen. Jedenfalls war er noch nicht unter der Erde, als er mir in diesem Traum begegnete:
Ich fuhr mit meiner Badewanne, wie inzwischen jeder meinen fast dreißigjährigen Kadett nannte, am Ortsschild eines Dorfs im Pfälzerwald und ich weiß noch den Namen, aber das spielt keine Rolle. Vor einer Kreuzung zeigte die Ampel auf Rot und während ich hielt, zündete ich mir eine Zigarette an und ließ den Blick nach rechts über den Marktplatz schweifen. Aus dem Radio dröhnte ‚Sympathay for the devil‘. Der Platz bestand aus diesen großen Pflastersteinen, sah gepflegt aus und war am Rand durch weiße Betonpfeiler und dazwischen mit schweren, schwarzen Eisenketten begrenzt. Und er war fast menschenleer. Zwei oder drei Marktbuden standen drauf und als ich diesen langen, schlaksigen Kerl zwischen den Buden in Richtung Rathaus stapfen sah, musste ich drei Mal hinschauen, um Ben darin zu erkennen. Ich hatte ihn noch nie einen Hut tragen sehen und erst recht keine unter dem Arm geklemmte, schwarzen Aktentasche. Was macht denn der da??, dachte ich. Er sollte im Sarg sein, statt hier auf dem Marktplatz! „BEN !“, rief ich, aber er konnte mich natürlich nicht hören, weil das Fenster oben war und die Musik laut. Ich beugte mich rüber, kurbelte das Fenster runter und schrie ihn erneut an. Anscheinend war die Musik noch zu laut, also drehte ich auch die runter und rief ein drittes Mal „BEN !“, aber er machte keinerlei Anstalten, sich umzudrehen.
Was soll das? Warum läuft der da rum? War er das wirklich? Natürlich war er das! Ich war mir sicher. Selbst mit Hut und Aktentasche war er das eindeutig. Ich parkte die Badewanne hektisch und so nah wie möglich an den Absperrketten. Runter von der Straße dachte ich – und kein größeres Aufsehen. Wahrscheinlich hatte er was auf dem Kerbholz und hörte mich absichtlich nicht. Er verschwand in der Gasse neben dem Rathaus und ich rannte ihm nach. Als ich dort ankam, war niemand zu sehen. Ich sah mich um. In der Gasse war ein Optiker, ein Bäcker und eine Kneipe. Keine Frage, wo ich ihn finden würde. Dann sah ihn auch schon, wie er sich am Ende der Theke auf einen der Hocker setzte. Der Wirt schien ihn zu erwarten und schob ihm ein frisch gezapftes Pils rüber. Er nahm es, schob es akkurat vor sich hin – und ließ es stehen. Ich hätte erwartet, dass er es in einem Zug leeren würde und diese Zeit wollte ich ihm noch geben, aber jetzt geschah gar nichts. Alle Augen richteten sich auf mich. „Ben“, sagte ich und versuchte soviel Pathos wie möglich reinzulegen, während ich mich zu ihm setzte „Ben! – was um alles in der Welt machst Du hier? Wir suchen dich überall. Deine Freunde vermissen dich. Was ist passiert? Wir machen uns tausend Sorgen – und du sitzt in diesem Kaff seelenruhig vor einem Pils und starrst vor Dich hin??“
„Lass mich in Ruhe! – Ich hab Feierabend“, sagte Ben. „Und außerdem bin ich nicht Ben“, sagte Ben. „Du erzählst mir jetzt sofort, was Du hier machst oder ich erzähle es allen, wo man dich finden kann!“, drohte ich. Ben ließ Zeit verstreichen und dachte darüber nach. Es schien ihm wirklich unangenehm, dass ich es verraten könnte. „Na gut. Ich sage es dir. Aber dann verschwindest du und kommst nie wieder zurück. Und kein Wort zu den anderen!“ Was bleibt mir auch übrig?, dachte ich und nickte ihm zu. Er orderte ein zweites Bier und stellte es mir vor die Nase. Ich leerte es in einem Zug. Dann sagte er mir, er arbeite nun beim Wanderzirkus und sei für den Aufbau der Zelte zuständig. Das sei ein ganz guter Job, die Kollegen wären in Ordnung, die Tiere putzig und die Frauen nett zu ihm. Außerdem stimme das Geld, er fange jetzt ein neues Leben an und werde nichts mehr anderes machen. Er wolle einfach nur seine Ruhe haben. Ich verstand es immer noch nicht. „Was ist mit uns, deinen Freunden“? Ich sah auf seine Aktentasche. „Steuererklärung“, brummte er. „…Verschwinde! Ich zahle. Und ich will dich nie wieder hier sehen. Und auch sonst keinen. Kapiert?“ Es ging mir alles bei weitem zu schnell, als dass ich noch hätte widersprechen können. „Na dann“, sagte ich mit deutlich hörbarer Ironie, „viel Spaß noch und falls du es dir anders überlegst…“ „Verpiss dich“, unterbrach er mich.
Ich stellte das Glas ab und versuchte meine Enttäuschung zu verbergen, aber es gelang mir kaum. Seit Ewigkeiten, so kam es mir vor, trauerten wir wegen seines Fenstersturzes. Und er saß hier und machte einen ‚auf Zufrieden‘, dachte ich wütend. Ich ging Richtung Ausgang, schüttelte den Kopf voller Unverständnis und drehte mich noch ein letztes Mal zu ihm um. Aber er ging gerade aufs Klo, also fiel das auch noch aus. Die Badewanne stand, wo ich sie abgestellt hatte. Ich fuhr bis zur Ampel vor, sie zeigte grün und ich fing an zu überlegen, wie ich die Story bis Zuhause verpacke. Kein Mensch würde mir glauben. Wenn ich es erzähle, würde ich einerseits mein Wort gegenüber Ben brechen und andererseits würden mich alle für durchgeknallt halten. Aber ich konnte unmöglich alle anderen belügen, wenn sie an seinem Grab standen und dachten, dass er da drin liegt. Ein Dilemma. Dann legte ich mir irgendwie eine Geschichte zurecht, die sie entweder glauben würden oder nicht. Mehr konnte ich nicht tun. Weder für Ben, noch für uns. „Hört zu!“ rief ich, als ich unsere Stammkneipe betrat. „Kommt alle zusammen. Ich muss Euch was erzählen!“ – und wachte auf.
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