Aus den marokkanischen Tagebüchern. Teil 1.
Die Delphine hatten ihren Spaß daran, die Fähre zu begleiten. Zu zweit, zu dritt oder zu viert hüpften sie in den Wellen auf und ab. Schnellten wie die Pfeile aus den Wellen. Hoch den Arsch. Und mit Karacho wieder zurück. Platsch! Und gleich nochmal. „Wenn wir nur irgendwas so gut könnten, wie die da schwimmen“, sagte ich zu Paul. Wir standen auf dem Oberdeck und warteten darauf, zum ersten Mal im Leben einen fremden Kontinent zu sehen. Es war sonnig und wolkenlos. Marokko blies uns einen kräftigen und heißen Wind entgegen, der das Stehen an Deck ganz erträglich machte, während die meisten anderen im Unterdeck Schatten suchten. Es machte mir nichts. Ich wollte Afrika entdecken. Dann tauchte die Küste auf. Zuerst wie im Nebel, dann zeichneten sich die Konturen deutlicher ab. Es war überwältigend, weil wir eine eigene Vorstellung von Abenteuer hatten. Afrika! Wenn wir Ceuta, die spanische Exklave hinter uns gebracht hätten, würden wir für die nächsten Monate mit der gleichen Energie dort eintauchen, wie die Delphine hier neben uns.
Nun, die Energie hielt nicht lange an. Kaum hatten wir uns mit den schweren Rucksäcken von Bord geschleppt, rannten mehrere Dutzend Händler auf uns zu, die uns alle irgendwas verkaufen wollten. Es ging um Sonnenhüte, Schmuck, Wasser, Zigaretten, allerlei Drogeriezeugs – und marokkanisches Geld. Wer um alles in der Welt tauscht hier mit privaten Händlern?, dachte ich noch, bevor ich auch schon die ersten blonden Europäer in Verhandlungen sah. Nein, sagte Paul zu dem Typ rechts, wir wollen kein Taxi. Nein, sagte ich zu dem Typ links, ich will keine Zigaretten. Nein, wir wollen kein Geld tauschen. Wir sagten noch ungefähr 75 mal Nein, bis wir in der sengenden Hitze die Straße zur Grenze erreichten. Kein Hauch von Wind mehr. Ab und zu hupte uns ein mit sieben, acht Personen voll gestopftes Taxi an, ehe es vorbei rauschte und dabei eine riesige Staubwolke hinterließ. Sie fuhren diese alten 404er Peugeots als Kombi mit zusätzlicher Rückbank im Heck.
Links und rechts der Straße wurden die Grenzzäune immer höher. Am Übergang waren sie gut und gern drei bis vier Meter hoch und obenauf waren Stacheldrahtrollen. Wir durchliefen mehrere Reihen von spanischen Militärs mit Springerstiefeln und Maschinengewehren im Anschlag. Es sah beängstigend aus. Autos standen in fünf oder sechs Reihen vor den Grenzern und nichts bewegte sich. Inzwischen waren wir klitschnass geschwitzt und teilten uns den letzten Rest Wasser. Alles um uns herum war Staub, Lärm, Abgase und flirrende Hitze. Ich kramte meinen Pass aus meiner Hosentasche. Er sah ohnehin aus wie drei Mal mitgewaschen, was er auch war. Jetzt klebten auch noch alle Seiten aneinander. Er sah verdammt abgeranzt aus, aber er war noch gültig. Der Spanier nahm unsere Pässe, klatschte ein paar Stempel rein und gab sie uns wieder, ohne uns auch nur anzusehen. Dann liefen wir in einem engen Gang zwischen zwei meterhohen Zäunen bis zur marokkanischen Grenze weiter. Für Fußgänger gab es ein Holzhaus mit einem viel zu kleinen Schalter, sonst nichts. Paul gab dem Zöllner seinen Pass und der nahm ihn und sah sich jede Seite aufs Genaueste an. Dann musterte er Paul. Dann nochmal den Pass. Dann nochmal Paul. So ging das hin und her, bis er endlich ein Visum rausrückte und Paul anwies, das Ding auszufüllen.
Ich reichte ihm meinen durch. Er machte sich nicht mal die Mühe ihn aufzuklappen, sondern warf ihn gekonnt mit Schwung zurück durch seine Sichtklappe auf den staubigen Weg – Unverständliches laut hinterher fluchend. Was sollte ich davon halten? Ich hob ihn auf und reichte ihm den Lappen nochmal rein. Er stand auf, griff mit einer Hand an seine Knarre und schickte mich mit der anderen weg. „Atrás!“ rief er. Ich wich zurück. Der Pass kam wieder aus dem Häuschen angeflogen und landete im Staub. Ich hielt es immer noch für einen Irrtum. Anscheinend gefiel ihm mein Ausweis nicht. Aber er war doch gültig?! Ich versuchte es auf französisch, weil ich nicht spanisch sprach, aber es war sinnlos. Ich schob ihm noch zwei Mal meinen gültigen, aber abgeranzten Reisepass hin und er warf ihn jedes Mal in hohem Bogen wieder raus. Paul kam zu mir und wir beratschlagten, was zu tun sei. Wir kamen nicht von alleine drauf und so standen wir eine Zeitlang ratlos in der Sonne rum. Mit Anfang Zwanzig ist die Welt im Großen und Ganzen noch in Ordnung und wir kamen nicht auf den Trichter, dass jemand in Uniform so offensichtlich geschmiert werden wollte. Unsere Gespräche drehten sich um andere Übergänge, Rückreisen und Alternativen, als er uns zu sich rief. Wir sollten reinkommen. Ich erinnerte mich an die Hand an der Waffe. Ich erinnerte mich an das Geschrei von „Atrás!“, seine abwertende Handbewegung und überhaupt sah seine Fratze eher danach aus, als ob er uns da drinnen umlegt oder für immer in Zwangsarbeit versklaven würde.
Er riss mir meinen Pass aus der Hand, knallte ihn auf den Tisch und schrie uns an. Ich stammelte irgendwas auf französisch, aber er brüllte auf spanisch weiter und so konnte ich ihm nicht antworten, weil ich es einfach nicht verstand. „Dinero!!“, rief er – und deutete auf unsere Taschen. Ich kramte etwa zehn Mark in spanischen Peseten raus. „Más!“, schrie er. Ich gab ihm nochmal zehn. „Más!“, schrie er wieder und griff an seine Waffe. Mein Puls wummerte. Ich hatte nicht mehr, also zählte ich noch rasch ein paar Münzen hin. „Aún más“! Paul machte seine Taschen leer und fand weitere zehn, aber es reichte ihm immer noch nicht. Ich zog das Innenfutter aus den Jeans und zeigte ihm meine leeren Taschen. Paul tat es mir nach. Es schien, als ob er uns jetzt endgültig über den Haufen schießen müsste, aber selbst wenn er es getan hätte, er hätte uns kein Geld mehr abnehmen können. Ich zeigte ihm die Traveller-Checks, aber die wollte er nicht. Er sah unsere Ratlosigkeit, die leeren Jeanstaschen und die zuckenden Schultern, nahm den Reisepass und stempelte ihn wütend durch. Dann schmiss er uns raus. Uns fiel erst fünfhundert Meter später auf, dass wir kein Visum hatten, aber wir drehten uns nicht mehr um, bis wir die Taxis auf der marokkanischen Seite erreichten.
Dem ersten, der uns die 35 km bis nach Tétouan mitnehmen wollte, sagten wir, dass wir keine bare Münze mehr hatten. „Pás de problème“, rief er, er würde uns dann zur Bank fahren. Während wir neben dem Taxi darauf warteten, dass er sich die anderen Mitfahrer zusammen sucht, malte ich mir aus, wie sie uns jetzt ins Nirgendwo fahren und dort überfallen und ausnehmen würden. Verdammt. Wir hatten uns gerade wie die Anfänger über den Tisch ziehen lassen. Obwohl es schon fast Acht war, war es immer noch heiß wie in der Sauna und wir sahen aus, wie seit Wochen auf der Straße unterwegs. Wir hatten nichts mehr zu trinken. Wir waren unser Bargeld los. Wir wussten nicht mal, was die Fahrt nach Tétouan kosten sollte. Wenigstens die Traveller-Checks, dachte ich. Der Fahrer würde wissen, wo es Geld dafür gab. Dann kam er mit fünf Turbanträgern zurück und wir quetschten uns rein. Einer von den Jungs hatte zwei große Flaschen kühles, kaltes Wasser dabei und reichte sie rum. Ich nahm einige tiefe Züge und sah mir das blaue Etikett an. Sidi Harazim stand drauf. Es schmeckte vorzüglich. Sie waren gut drauf und fragten uns, woher wir kamen und wohin wir wollten. Ich sagte, wir seien im Auftrag des Herrn unterwegs und alle lachten. Paul kramte zwei Zigaretten aus seiner Schachtel, zündete sie an und reichte mir eine rüber. Jetzt wehte ein angenehmer und warmer Fahrtwind durch die offenen Fenster. Am Horizont war die Sonne dabei, sich hinter den Bergen zu verstecken. Aus dem Radio dröhnte arabische Musik. Es klang gut.
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Ein wunderbares Abenteuer und mal wieder sieht man, es gibt mehr gute als böse Menschen.
Gut erzähltes Abenteuer.
Es klingt nach Fernweh!