Der Kapitalismus fährt aber leider auch die schönsten Ideen platt, indem er sie wie eine Zitrone ausquetscht um zu sehen, ob da nicht doch noch irgendwas ist, was man zu Geld machen könnte. Bei Zalando setzen sie nun eine Software ein, die Mitarbeiter dazu zwingt, sich permanent Notizen zu ihren Kollegen zu machen. Weil sie von der Software regelmäßig gefragt werden, wie sich die Mitarbeiter in diesem oder jenen Arbeitsprozess zueinander und gegenüber Außenstehenden verhalten haben. Das heißt, es ist für Zalando-Mitarbeiter überhaupt nicht möglich, in Ruhe zu arbeiten, ohne ständig über die Nachbarn Auskunft zu geben. Die Stasi wäre neidisch drauf, wenn es sie noch gäbe.
Dabei ließe sich die Methode durchaus hilfreich einsetzen. Die Frage, was man im Leben erreichen kann und will, hängt doch wesentlich davon ab, was andere einem zutrauen und gar nicht so sehr davon, was man sich selbst zutraut.
Wir sind für andere, was andere in uns sehen – und nicht, was wir gerne sein möchten. Ganz egal, wer wir sein wollen. Sozusagen einfache Mehrheit. Zwar beeinflussbare, aber nicht wählbare Eigenschaften. Die Ansichten anderer über dich ändern sich gelegentlich, aber sie scheinen selten die gleichen, wie deine eigenen. Für mich bin ich zuallererst derjenige, für den ich mich halte. Für andere jedoch bin ich derjenige, für den sie mich halten.
Damit kommt nicht jeder klar. Und es ist ja auch irgendwie komisch. Eine ganze Branche lebt vom Coaching, Therapieren und Ankommen und doch sehen andere in uns nicht das gleiche wie wir selbst. Um diesen Unterschied zu messen, empfehle ich, sich anzuhören, was andere über einen denken. Und zwar widerspruchslos. Eine außerordentliche Erfahrung. Mitunter so, als ob man etwas über einen völlig Fremden erfährt. Wie bitte? Das soll ich sein?
Grundsätzlich sehe ich mich weitaus kritischer, als andere mich sehen. Das geht nicht jedem so. Wenn ich an Politiker und Schauspieler denke – was im Grunde das gleiche ist – entdecke ich auffallend viele, die sich größer sehen, als sie sind. An Donald Trump beispielsweise, kann es nicht vorbeigehen, dass ihn der Großteil der Menschheit für wahnsinnig und bescheuert hält. Aber es ist ihm egal. Er steht morgens vor dem Spiegel, fühlt sich zu höherem berufen und ist felsenfest davon überzeugt, der klügste und beste Präsident aller Zeiten zu sein. Das ist bewundernswert. Und leicht zu durchschauen.
Die größeren Probleme bereiten hingegen die umgekehrten Fälle, die in der Mehrheit sein dürften. Wie viel mehr könnten wir leisten, wenn uns bewusste wäre, was wir alles auf die Reihe kriegen. Wenn uns klar wäre, was uns andere zutrauen. Das schafft Selbstbewusstsein. Deshalb plädiere ich ab sofort für folgendes Procedere: In jeder Situation, in der mehr als zwei Menschen miteinander arbeiten oder lernen – was die überwiegende Mehrheit sein dürfte – wird es ab sofort zur Pflicht, sich regelmäßig und ehrlich darüber auszutauschen, wie man sich gegenseitig einschätzt. Allerdings nicht über eine Software, die das auswertet, sondern „BAM – IN YOUR FACE“
Wie viele Probleme könnten damit gelöst werden! Wie viele Fortbildungen, Therapien und Missverständnisse könnten wir uns ersparen! Die Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung dürfte die Ursache für so vieles sein: Stress im Team, falsche Berufswahlen, unnötige Sorgen, unerledigte Aufgaben, fehlende Perspektiven. Schon in der Schule müsste es zur Pflicht werden, sich einfach mal die Wahrheit über das zu sagen, was man sieht. Stattdessen heißt es „Nein, du bist nicht verhaltensauffällig. Du bist originell!“
Wenn Du selbst vor dem Spiegel stehst und davon überzeugt bist, dass dieses alte, dicke und hässliche Gegenüber nichts auf die Reihe kriegt, dann bedeutet das nicht, dass andere ebenso über dich denken. Es wird sogar sehr wahrscheinlich so sein, dass du Dinge erfährst, die dieses Bild korrigieren. Nutze das. Was andere über dich denken und wie sie dich sehen, ist die zweite Seite der gleichen Medaille.
Ich befürchte aber, irgendwer hat diesen Aufsatz schon vor mir geschrieben. Und diejenigen, die die Zalando-Software programmiert haben, werden es wohl gelesen haben.
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