Egon für Eins-Zwo-Sieben!

 

1998 waren die Flachbildfernseher noch unbezahlbar. Aber ich brauchte einen, denn es war WM und die wollte ich mir ansehen. Also klemmte ich mir eine der Röhrenglotzen, packte sie zuhause aus und startete den Suchlauf. Das brachte mir exakt zehn Programme, was ganz schön viel war. Die Spiele konnten beginnen! Was es mir aber auch brachte, war den Polizeifunk. Zuerst konnte ich es gar nicht glauben, aber auf einem der Kanäle funkten sie wie die Kaputten in diesem typischen Polizeijargon. „Egon für eins-vier-acht, bitte kommen“ „Egon hört“ „Wir haben hier eine Person mit erhöhter AAK, bitte mal eine BP“! „Egon“ war die Zentrale. Und selbst damals hieß kein Mensch mehr Egon. Oder „Eins-zwo-Sieben für Egon“ „Egon hört“ „AT wegen RS mit dem BF geklärt“ – so ging das die ganze Zeit. Sie warfen mit lauter Abkürzungen um sich, aber mit der Zeit kam ich drauf, um was es ging und von jetzt an hörte ich jeden Tag rein. Tagsüber war wenig los, aber abends war das wahnsinnig spannend. Ich nahm mir extra Zeit dafür, ploppte mir ein Bier auf, steckte mir eine an und notierte mir die Abkürzungen und was sie bedeuteten. In neun von zehn Einsätzen fuhren sie los, weil sich irgendwer über Lärm beschwerte. Feiern, Nachbarn, Straßenlärm, aber immer was mit Krach. Nie was mit Sex und Crime, mit Verfolgungsjagden wie bei Kojak, keine Banküberfälle oder wenigstens was mit Drogen.

Ich notierte mir die Adressen und fand so heraus, in welchem Teil der Stadt es die meisten Feiern gab, in welchem Viertel die Leute am lautstärksten stritten und welche Kneipen am spätesten zumachten. Ich kannte auch die Stimmen der Polizisten, die zu den Nummern statt den Namen gehörten und stellte mir vor, wie die Gesichter dazu aussahen. Eins-Null-Neun machte einen auf locker, aber hatte sonst nicht viel zu bieten. Eins-Zwo-Sieben war ein bäriger Typ mit einer mühselig, aber abgeklärt klingenden und dunklen Stimme, der war bestimmt schon dreißig Jahre dabei. Er war der kumpelhafte Typ, den jeder mag, aber keiner weiß warum. Eins-Vier-Acht war eine Polizistin von höchstens 25 Jahren. Sie hatte den Polizeijargon voll drauf, weil sie ihre Ausbildung erst hinter sich hatte und machte gegenüber den anderen auf Understatement, aber Vorsicht, Eins-Null-Neun, den Kampf hast Du schon vor dem Gong verloren! Und dann war da noch Eins-Acht-Acht, der nie was anderes als „Verstanden“, „Okay“ und Ende“ sagte. Ich wollte schon gelangweilt aufgeben, aber dann kam die Story, die alles rausriss. Egon schickte Eins-Vier-Acht und Eins-Zwo-Sieben hin und machte sich langsam Sorgen, als sie Verstärkung anforderten und selbst nachdem der Eins-Acht-Acht-Okay-Mann eintraf, wollte keiner den Abschluss funken. Erst viel später erzählte Eins-Vier-Acht die ganze Story und es war das erste Mal, dass sie beim Funken die ganzen Abkürzungen wegließen oder vergaßen, vermutlich weil es für den Irrsinn gar keine Abkürzungen gab!

Am Anfang waren es zehn bis fünfzehn wild umher schreiende Nachbarn, bis sich die Sache nach und nach aufklärte. Vorher saßen den Abend über die beiden, die dort wohnten, auf der Wohnzimmercouch vor der Glotze und waren wie immer kräftig am Bechern. Irgendwann war der Bölkstoff zu Ende, denn sie soffen immer mehr, als sie in den dritten Stock tragen konnten. Das Haus hatte keinen Aufzug und es war eben mühsam, das ganze Zeugs dort hochzuschleppen. Und so machten sie untereinander aus, wer zum Späti runter muss und es traf halt ihn. Damit seine schon reichlich betrunkene Olle nicht aufstehen muss, wenn er zurückkommt, ließ er die Tür angelehnt und polterte dann die drei Stockwerke durchs Treppenhaus runter, während gleichzeitig aus der vierten Etage ein anderer Säufer mit dem gleichen Auftrag aus der Wohnung seines Kumpels stolperte. Als der aus der vierten Etage jetzt an der dritten vorbeikam, tappte er besoffen wie er war, dort schnurstracks rein und setzte sich erst mal neben die Olle auf die Couch, sah sich um, sprach aber kein Wort außer „Tachchen“. Sie mit "Tachchen" zurück und dachte, naja, wenn Meiner den reingelassen hat, dann wird der schon in Ordnung sein und als er vom Bier holen zurückkam, dachte der sich, naja, wenn Meine den auf ihrer Couch sitzen lässt, dann wird das schon in Ordnung sein. Dann becherten sie zu dritt vor der Glotze weiter, bis der Punkt kam, an dem das Bier schon wieder alle war. Und der Alte sagt, ich geh jetzt nicht wieder runter, jetzt bist Du dran. Und sie sagt, ich geh jetzt auch nicht, soll der andere doch mal einen ausgeben, du hast den doch eingeladen. Und der Dritte sagt: Wieso ich? Ich kenn Euch doch gar nicht! Und ruckzuck, befeuert vom Alkohol und weil sich jeder zu Unrecht angemacht fühlte, brach die große Schreierei aus. Und als ob das noch nicht genug wäre, kamen jetzt auch noch die Jungs aus der Vierten, genervt weil seit Ewigkeiten auf Nachschub wartend und lärmten rum, weil die aus dem Dritten das vermeintlich für den Vierten gekaufte Bier wegsoffen. Und schon war High-Life in der Bude und als Eins-Vier-Acht und Eins-Zwei-Sieben eintrafen, hatte sich eine saubere Massenkeilerei entwickelt.

Ich hatte noch einige weitere Tage mit Egon, aber dann stellten sie das Funken auf dem Kanal ein, aber allein für diesen Abend hatte es sich gelohnt. Ich werde Dich vermissen, Eins-Zwo-Sieben, dachte ich. Aber Fußball war ja auch noch!

 

 

 

 

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