Neues aus Entenhausen

Gefühlte Ewigkeiten schon, nervten alle möglichen toupierten Tanten damit, dass es jetzt nur noch sechs Monate oder nur noch fünf Wochen oder nur noch vier Tage dauere, bis ich endlich in die Schule käme. Ein großer Tag sei das, dieser Tag der Einschulung. Und jedes Mal schaute ich sie mit großen, ungläubigen Augen an und tat eifrig so, als ob ich mich darauf freute, dabei hatte ich doch keine Ahnung, was auf mich zukam. Ich nickte immer bloß wissend und auf die Frage hin, ob ich mich denn auf den großen Tag freue, sagte ich nichts. Aus einer instinktiv berechtigten Angst, ich würde das falsch einschätzen. Aber das stellte sich erst später raus. Noch war es nicht soweit.

Es schien ein großes Ding zu sein, dieses Schulzeugs. Zu Kindergartenzeiten war oft die Rede davon. Im Westen, wie man hier in Berlin vor jedem derartigen Hinweis vorausschickt, war es üblich, nur vormittags in den Kindergarten zu gehen. Mit dem kam ich gut zurecht, aber was das mit dieser Schule sein sollte, war mir völlig unklar. Ich wollte da nicht hin. Wer weiß, so dachte ich mir, was sie da mit einem anstellten. Das Procedere hier im Kindergarten kannte ich. Der Flachbau war erst in den Sechzigern erbaut worden und galt damals mit seinem Buntsteinputz außen und seiner typischen Baukastenarchitektur als Up-to-Date. Im Inneren gab es einen riesigen Saal voller Spielsachen und wenn Mutti mich von dort abholte, sprach die Kindergärtnerin, die wir alle „Tante Gaby“ nannten, immer noch ein paar Worte mit Mutti darüber, mit welchen Spielsachen ich mich den Morgen über beschäftigt hatte und was ich damit anstellte. Das fand ich seltsam. Ich stand ja daneben. Man hätte auch mich fragen können.

Eines der Spielsachen war ein etwa Fußball-großer Würfel mit grellbunten Wänden aus Plastik, in den Öffnungen aus Dreiecken, Kreisen und Quadraten eingelassen waren. Das Ziel des Spiels war es, ebenso quietschbunte Spielklötze aus Pyramiden, Zylindern, Kugeln und Quadern durch die geometrisch geformten Aussparungen zu führen, um sie im Innern des Würfels zu sammeln. Wenn man alle zwölf Förmchen dort rein brachte, kam Tante Gaby und öffnete eine der Würfelklappen, um die Klötzchen wieder auf dem Boden zu verteilen. Das ganze Prinzip war so einfach wie durchsichtig. Wer kam auf die Idee, sowas Schwachsinniges zu produzieren, um uns damit zu beschäftigen? Im zweiten Durchlauf ging ich zum Kinderwerkzeugkasten, nahm den Gummihammer und drosch alle Förmchen mit Gewalt durchs Dreieck, was mir seltsamer Weise auch gelang. Damit war die Aufgabe erledigt und mittags hatten sie was über mich zu quatschen.

Lieber nahm ich mir den einzigen verfügbaren Gummiball und erzielte damit alle Tore von Gerd Müller der WM 1970 in Mexiko ein zweites Mal, indem ich den Ball quer durch den Saal über die Köpfe der gegnerischen Abwehr hinweg ins Tor der Kitaküche ballerte. Das brachte es eine Zeitlang, aber dann schoss ich Rita zunächst die Hornbrille und dann die blonden Zöpfe weg. Die Kugel prallte von ihrer Birne ab und traf Tante Gaby mit Wumms an einer Stelle, an der es ihr empfindlich weh tat. Berufsrisiko. Und was für die Besprechung mittags. Ich spielte auch gern mit den Matchboxautos. Wir wohnten damals an einer der Haupteinfallsstraßen unserer Stadt und einer der mir vertrautesten Anblicke war der morgendliche Stau in die City, den ich immer vom Fensterbrett unserer Wohnung im dritten Stock aus beobachtete. Das faszinierte mich, wie sie jeden Morgen in riesigen, schier endlosen Zweierketten aneinander gereiht standen und von oben aus konnte man sehr gut sehen, wer in den einzelnen Fahrerkabinen saß und ich versuchte zu erraten, wohin sie fuhren. Da waren sie jeden Morgen. Mindestens vierzig bis sechzig Autos auf einen Blick in allen erdenklichen Modellen und Lackfarben und stauten sich einem unbekannten Ziel entgegen. Diese Szene spielte ich sehr gerne nach und wenn ich die Blechlawine im Saal sorgfältig aufgestellt hatte, kam Tante Gaby wie Godzilla an und räumte die Rush-Hour von hinten ab. In ihrer beruflich bedingten Kurzsichtigkeit erkannte sie die Tragweite dieses epischen Moments einfach nicht, wie sich ein Fünfjähriger sozialkritisch mit dem morgendlichen Berufsstau auseinandersetzte, indem er neue Straßen durch die Stadt baggerte, damit es vorwärts ging. Das ärgerte mich. Aber in der Zwischenzeit ihrer Aufräumarbeiten zirkelte ich den Freistoß, den ich bei Pelé gesehen hatte, zielgenau in die Kloschüssel, weil Rita vor Schreck die Tür zum Scheißhaus offenstehen ließ, nachdem sie mich Anlauf nehmen sah.

Ich hatte jeden Tag was zu tun. Aber was es mit dieser Schule auf sich hatte, war mir völlig unklar. Dann war es soweit. Mutti begleitete mich zum großen, zeremoniellen Eintritt in die Versklavung. Ich ahnte in meiner Einfältigkeit einfach nicht, dass mir elf Jahre unendlicher Langeweile bevorstanden, deren ich beiwohnen musste, damit ich am Ende irgendeinen Schein erhielt, auf den es ankam. Davon erzählten sie mir einfach nichts. Alle taten immer so, als ob das jetzt das ganz große Ding werden würde und ich traute mich einfach nicht, nachzufragen. Das war es also.

Sechsunddreißig Sechsjährige auf einem Klassenfoto mit einer völlig überforderten Lehrerin. Sie war hübscher als Tante Gaby, aber wir durften Fräulein Vieler nicht Tante rufen. Und kein Fußball weit und breit. Nicht mal ein Plastikwürfel, den ich stattdessen kicken konnte. Aber dafür kriegte jeder von uns diesen riesigen Kegel in den Arm gedrückt, den man Schultüte nannte. Das muss ich wirklich zugeben: Ich war positiv überrascht, was man zum Schulbesuch so alles braucht. Schokoladen, Nougat, Zuckerstangen, ein paar bunte Murmeln, ein komplettes Ahoi-Brause-Sortiment aller Geschmacksrichtungen und sogar ein brandneuer PEZ-Pfefferminzspender mit dem Kopf von Goofy, dem bescheuerten Walt-Disney-Köter. Die Schultüte war zudem wunderschön. Sie war blau-weiß-kariert und zeigte Donald Duck, der offensichtlich freudig auf etwas hinwies. Das gefiel mir. Am ersten Tag.

Nur stellte ich leider fest, dass ich am nächsten Tag schon wieder in dieses doofe, hoffnungslos überfüllte Schulhaus musste, wo wir uns artig in die Schulbänke zwängten. Und zwar ohne die Schultüte. Als ich nach Hause zurückkehrte, war Donald Duck zwar noch da, aber ich fand ihn enttäuschender Weise nicht nachbefüllt und so begriff ich Tag für Tag in einem erschreckend klaren, geradezu tragischem Ausmaß, dass dieses ganze Schokoladen-Murmeln-Comic-Gedöns nur ein winziges Trostpflaster für die bevorstehende, jahrelange Ödnis darstellen sollte. Was fast noch schlimmer war: Alle meine jüngeren und nachfolgenden Cousins und Cousinen durchliefen das exakt gleiche Schicksal. Sie erhielten MEINEN Donald reihum in der Reihenfolge ihrer Einschulung, waren aber alle viel besser vorbereitet, weil ihr ältester Cousin schon wusste, was sie erwartet. Und dafür machten sie also alle so ein riesiges Tam-Tam um diese Einschulung, dachte ich nach den ersten Wochen. Nie zuvor und auch niemals danach hat mich etwas dermaßen enttäuscht.

 

 

 

 

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2 Kommentare

  1. Gelesen am 16.03.18 beim Salonabend Thomas

  2. Gelesen am 12.2.18 im Café Cralle 

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