Der Chef warnte uns gleich zu Anfang. „Wenn die Dinger im Müll landen, gibt’s nicht nur kein Geld, ich zieh Euch noch was vom Taschengeld ab!“, rief er uns zu. Wir waren zu viert. Markus, der auf sein Fahrrad sparte, Adolf, der eigentlich gar nicht Adolf hieß, der dicke Patrick und ich. Zum Job kamen wir, weil Markus erfahren hatte, wie man viel Geld verdienen kann, indem man einfach Zeitungen in die Briefkästen stopft und außerdem bräuchten die noch viel mehr Austräger und wir würden garantiert engagiert werden. Das gefiel mir. Ein Job, für den man sich nicht bewerben muss, wo das Geldverdienen von alleine geht und man sich nicht weiter anstrengen muss. Genau so erzählte ich es auch dem dicken Patrick. Wie Adolf, der gar nicht Adolf hieß, dazu kam, wusste ich nicht. Aber er tat mir leid. Er hatte nichts mit Nazis am laufen. Dass sie ihn alle so riefen, war nur ein weiterer Beweis dafür, wie grausam dieser beschissene Schüleralltag war. Und jetzt standen wir zu viert bei dem großen, alten Mann mit dem Holzfällerhemd, der gerade kiloweise die Stapel mit den Werbezeitschriften aus seinem Kombi lud und uns währenddessen mit gehetzter Stimme darüber informierte, wie der Job läuft. Der Typ machte einen wahnsinnig gestressten Eindruck. Er hatte nicht eine Sekunde Ruhe, bis alle Stapel ausgeladen waren und redete währenddessen unentwegt auf uns ein. „Ihr dürft…“, ächzte er und langte immer tiefer auf die Ladefläche , „… euch erst melden, wenn Ihr alle Zeitungen…“, er zog ein weiteres Paket zur Ladekante „… los seid und Ihr dürft auf gar keinen Fall …“, packte er den achten Stapel auf den siebten „…irgendwo doppelt reinwerfen, auch wenn …“ , er langte nochmal in den Kombi „…es Hochhäuser sind, ich kenn‘ euch Burschen!“. Dann sagte er noch ein paar Dinge zur Bezahlung und schon war er wieder weg.
Ich betrachtete mir den Zeitungsturm. Ein Viertel davon war für mich. Das war immer noch mehr, als in meine Tasche passte, die ich mitgebracht hatte. Aber ich ging es an. Für mich stand fest, dass ich die Dinger in Rekordzeit loswerde und ich richtig was auf die hohe Kante packe, wenn die großen Scheine dafür kommen. Wir verabredeten uns, wer wohin geht und hielten es für die beste Strategie, in Zweierteams loszuziehen. Der dicke Patrick sagte, ich solle mit ihm zusammen losziehen und Adolf machte sich mit Markus auf die Socken. Am Nachmittag wollten wir uns alle wieder treffen. Es dauerte nicht lange, genau genommen keine fünfhundert Meter weit, bis wir ahnten, worauf wir uns eingelassen hatten. Die Gegend war mit kleinen Häusern bebaut, in denen es mal ein, mal zwei, mal drei Briefkästen gab und fast ausnahmslos alle hatten sie Schilder dran mit „Keine Werbung, bitte“, „Werbung verboten“, „Hier keine Werbung“ oder sogar handbemalt auf dem Blech „Keine Werbung einwerfen!!!“ mit drei Ausrufezeichen und ähnlich feindliche Parolen gegen uns ehrlich und hart schuftende Arbeitnehmer. Der Klassenkampf zog direkt in unseren Schülerjob ein und ich nahm ihn tapfer an. Die erste Zeit hielten wir uns mit der Feststellung über Wasser, dass wir die Zeitungen nicht als Werbung betrachteten. Immerhin war ein redaktioneller Artikel drin, der über den neuen Kreisverkehr am Ortseingang umfassend informierte. Also stopften wir die Dinger trotzdem in die Kästen, ganz egal was drauf stand. Das ging nicht sehr lange gut.
Schon Ende der ersten Straße lehnte sich eine Frau aus dem Fenster, die unsere Aktionen bei den Nachbarn genau begutachtete. Sie wartete geradezu drauf, dass wir uns ihrem Haus näherten, um uns, die Jung-Proletarier der Schülerkaste, aufs Übelste zu beschimpfen. Ich sagte ihr, dass wir die Blätter ja sonst nicht loswerden, aber sie ließ sich dadurch nicht beeindrucken. „Mir doch egal“, rief sie, „von mir aus könnt Ihr sie abfackeln!“. Mir gefiel die Antwort nicht, aber sie setzte sich auf eine der weiter entfernten Synapsen. Vom Verbot, die Dinger nicht verbrennen zu dürfen, hatte der Chef im Holzfällerhemd nichts gesagt. Ich schob den Gedanken wieder weg. Wir waren ja nicht mal hundert Exemplare los. Nach zwei Stunden und fünf weiteren dieser Straßen hatten wir genug davon und überdachten unsere Strategie. Wir wechselten ins Neubauviertel. Ein Paradies gegenüber der Maloche zuvor! Riesige Reihen voller Einwurfschlitze taten sich vor uns auf. Ich nahm einen der Hunderterpacks und fing an, die Fächer zu stopfen. Die meisten der Fächer waren schon mit irgendwas anderem vollgestopft, aber ich hatte ziemlich schnell den Dreh raus, sogar mit nur einer Hand die Klappen hochzuhalten und die Blätter reinzuschieben. Dann kam jemand, der wahrscheinlich der Hausmeister war und fing augenblicklich an, uns noch viel ärger zu beschimpfen, als die Alte am Fenster. „Hört auf mit dem Scheiß, hier immer drei oder vier von diesem Müll einzuwerfen, von mir aus könnt Ihr die als Klopapier nehmen oder sie in den Fluss werfen oder Papierflieger draus basteln, aber das hier will ich nicht mehr sehen!“, rief er ziemlich garstig. Wow, schon wieder drei neue Verwendungsmöglichkeiten, dachte ich, fühlte mich aber unschuldig. Auch der dicke Patrick beschwerte sich. „Wir sind doch hier grad erst reingekommen und überall haben wir nur eins reingetan, schauen Sie doch nach!“. Er öffnete eins der Fächer und schaute nach. Insgesamt lagen vier davon drin.
„Adolf“, sagte ich. „Was?“ fragte der Hausmeister entrüstet. „ADOLF!“ rief ich. „Seht bloß zu, dass Ihr hier rauskommt, sonst setzt es was“ – und es klang wirklich bedrohlich. Ich packte die Zeitungen wieder in die Tasche. Immerhin reichte die Tasche jetzt aus, weil der Rest in den Postkästen des Hochhauses steckte. „Komm“, sagte ich zum dicken Patrick, „hier gibt’s noch mehr Wohnblöcke“. „Wehe, Ihr kleinen Scheißer wagt es…“, drohte der Hausmeister. Draußen regnete es. Von drinnen sah uns der Kerl durch die Scheiben des Postraums nach, ob wir die Gegend auch wirklich verlassen. Verdammt. Anscheinend hatten es Markus und Adolf richtig gemacht. Die sind mit dem Bus hierher gekurvt, während wir durch die Siedlung liefen, wurden ihren ganzen Krempel los und liegen jetzt schon wieder mit dem Arsch im Bett, dachte ich. Ich hatte noch rund 500 von diesen Teilen in der Tasche und keinen Plan, wohin damit. Der dicke Patrick mindestens genau so viele. Der Regen nahm immer mehr zu, während wir zur Haltestelle latschten. Mir fiel ein, dass Opa immer alte Zeitungen nahm, um sein Gemüse drin einzupacken, also steckte ich in Gedanken schon mal hundert weg. Das schien mir legitim. So als Anzahlung. Aber wohin mit dem Rest? Es gab damals noch nicht mal Altpapiercontainer. Man hätte sie zur Entsorgungsstelle der Müllabfuhr fahren müssen und einen Job loszuwerden, um ihn mit einem noch aufwändigeren zu ersetzen, das schien mir nun wirklich nicht angemessen. Wir fuhren mit dem Bus in eine Gegend, die als Verteilergebiet nicht so attraktiv wie die mit den Hochhäusern war, aber immerhin sechs bis acht Mieter pro Eingang bot. Aber selbst da lugte der Schrott schon aus den Briefklappen.
Die Lösung des Problems bot sich sehr unerwartet an. Gerade, als ich am Kiosk ein Feuerzeug kaufen wollte, um das große Papierfeuerwerk zu zündeln, entdeckten wir die beiden anderen auf der Straßenseite gegenüber – offensichtlich in tieferen Verhandlungsdebatten mit einem der Anwohner verstrickt. Wie sich herausstellte, war ihnen genau das gleiche passiert wie uns. Auch Adolf und Markus waren bei den Hochhäusern gewesen und hatten sogar den gleichen grimmigen Hausmeister getroffen und zwar, noch bevor sie mit dem Verteilen loslegten. Auch sie hatten die meisten ihrer Werbeblätter noch in den Taschen. Das Gespräch, in das sie mit einem seltsam verschrobenen Kerl mit dicker Hornbrille und Rotweinnase verstrickt waren, drehte sich um Rabatte, Coupons und Gewinnspiele. Der Typ, mit dem sie sprachen, wollte uns offensichtlich die restlichen rund 2000 Exemplare abnehmen, weil es darin eine Werbeanzeige gab, die einem versprach, dass man irgendwo einen Gratiskaffee kriegt, wenn man sie beim Bestellen vorzeigt. Ich sagte, das sei mir auch schon aufgefallen, weswegen die fünfzehn Kilo Altpapier hier einen Wert von circa 2000 Mark hätten. In unserer grenzenlosen Großzügigkeit jedoch, würden wir sie ihm für 'nen Fünfziger überlassen. Zu meiner eigenen Überraschung dachte er drüber nach. Und nochmal überraschender war, dass er fast drauf einging. „Vierzig“, sagte er. „Gebongt“, rief Markus – schneller als sonst jemand reagieren konnte. Der Messie hatte eindeutig 'nen Sockenschuss. Aber mir war es letztendlich egal, wie dieser viel zu lange Scheißtag enden würde. Mir qualmten die Socken. Und schon bald trugen wir ihm das Papier in der Küche auf dem Tisch zusammen, wo er anscheinend schon vor uns Schüler abgefangen hatte, denn er hatte schon einen beachtlichen Stapel zusammen, den er sich mit der daneben liegenden Riesen-Papierschere zurecht geschnitten hatte.
Wir teilten die Flocken unter uns auf. Dann trennten wir uns und der dicke Patrick fuhr noch einige Haltestellen in meine Richtung mit, während wir uns über die Joblage im allgemeinen und diesen Premiumjob insbesondere austauschten. „Wieso heißt Adolf eigentlich Adolf?“, wollte ich wissen. „Keine Ahnung, wer zuerst auf die Idee kam, ihn so zu nennen“, sagte der dicke Patrick. „Eigentlich heißt er Fritz. Er mochte seinen Namen nicht und hat das rum erzählt“. Die Schulzeit sollte noch zweieinhalb elend lange Jahre dauern.
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