Vierundfünfzig. Weder er noch sie wussten zu dem Zeitpunkt, wie man das macht mit dem Nachwuchs, also kann es auch nichts mit Genen zu tun haben. Alles was ich kenne, sind die verschwommenen Bilder aus dem Berner Wankdorfstadion und die sich überschlagende Stimme von Herbert Zimmermann in der Radioreportage „…aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt… Tooor, Tooor, Tooor, Tooor!!“. Ähnlich geht es mir mit Wembley 1966. „Tor, nein kein Tor! Kein Tor!Jetzt spricht der Schiedsrichter mit seinem russischen Kollegen an der Seitenlinie… er gibt das Tor, er gibt das Tor“. Großartig. Auch wenn das keine erlebte Erinnerung ist. Aber es ist immer was anderes, wenn man es selbst erlebt hat, wenn man es wenigstens in der Minute, in der es geschah, auch sah. Es gibt nicht viele Momente, an die ich mich genau erinnere, als ich sie im Fernsehen sah. Aber alle haben sie was mit Fußball zu tun. Beispielsweise weiß ich noch ganz genau, wo ich es sah, wie ich es sah und wie es sich anfühlte, die Finalniederlagen 1982, 1986 oder das Aus im Halbfinale 2006 und 2010 zu sehen.
Vierundsiebzig. Ich hatte mit meinen neun Jahren gerade die ersten Livebilder vor der WM gesehen, als die Über-Bayern zum ersten von drei Mal in Folge Europapokalsieger wurden und verfolgte alle Spiele der WM wie im Rausch. Ich sah das 0:1 unserer Jungs gegen die DDR in Hamburg mit Tränen in den Augen, an eine Verschwörung glaubend und niemand meiner Verwandten konnte nachvollziehen, dass ein „einfaches“ Fußballspiel einen kleinen Jungen derart bewegt. Ich sah und fieberte mit bei der Wasserschlacht von Frankfurt, als Deutschland mit Polen die stärkste Mannschaft des Turniers rauskickte. Und jetzt saß ich mit meiner Mutter bei Verwandten und deren Nachbarn im Wohnzimmer und noch bevor Onkel Luggi sein Bier zum ersten Mal nach dem Anpfiff ansetzte, führte Holland schon. Wir waren so geschockt, dass es schlagartig ruhig wurde. Ob die anderen nich dran glaubten? Ich tat es. Erst als Breitner und Overath das erste Mal abzogen, fing sich die Stimmung wieder. Dann kam Hölzenbeins Schwächeanfall, den Onkel Luggi und Paule zum gerechten Elfer beförderte und Müllers unnachahmliches Talent, der zum 2:1 einnetzte. Die Holländer waren deutlich besser in dieser zweiten Halbzeit des Finales, aber meine Jungs hatten es gerockt und so wurde es ein Abend, an dem ich sehr lange aufbleiben durfte.
Neunzig. Fußball war nicht unbedingt das Wichtigste, als ich 25 war. Aber ich erinnere mich, dass Kamerun mit dem unvergesslichen Roger Milla ein Highlight war. Milla mit seinen vierzig Jahren versenkte den ein oder anderen schönen Treffer und brachte Kamerun ins Viertelfinale, wo sie mehr als unglücklich an England scheiterten. Außerdem erinnere ich mich an den Jugoslawenn Stojkovic und Ruud Gullit von den Oranjes, den ich für den bis dato komplettesten Spieler aller Zeiten hielt. Der Mann konnte einfach alles und war noch stärker als Matthäus in seinem besten Fußballjahr. Aber Deutschland hatte ein Team ohne Schwächen und das brachte es schließlich. Schon 86 hätte es gereicht, wenn nicht die Argentinier, sondern wir Maradona in unseren Reihe gehabt hätten. Er machte halt den Unterschied. Das Finale 1990 war wieder ein deutsch-argentinisches und es war unfassbar spannend. Ich war schon beim Fünften als Brehme den Elfer versenkte und brüllte die ganze Anspannung raus. Später hieß es, es hatten massenhaft Leute Herzinfarkte während des Finales. Ich war mit dem Metzger bei Freunden von ihm und mit dem Schlusspfiff schlief ich ein, weil mich der Alkohol übermannte. Als ich vom Geschrei wieder aufwachte, kriegte ich noch die letzten Schwinger einer Schlägerei mit. Der Metzger klärte mich später auf, dass die Brüder, bei denen wir eingeladen waren, sich noch nie leiden konnten und weil der eine während des Spiels des anderen Frau angrub, eskalierte der Streit. Mir war das egal und ich gab ein aufmunternd lautes WELTMEISTER! von mir, rülpste kräftig durch, nahm mir noch ein Bier auf den Weg mit und wir zogen ab.
Vierzehn. Ich hatte während des ganzen Turniers nicht dran geglaubt. In den beiden WMs zuvor waren wir stark und hätten es schaffen können, aber diesmal, dachte ich, sind die Besten über ihren Zenit raus. Als es gegen Algerien nur nach Verlängerung reichte, hätte ich eher nen Zehner auf Frankreich im Viertelfinale gesetzt. Dann im Halbfinale gegen den Gastgeber anzutreten, bedeutet in aller Regel das Aus, insbesondere wenn es Brasilien ist, denn die hatten sich typisch südamerikanisch unter die letzten vier gekickt. Ich sah das Halbfinale in einer Kneipe in Paris, wo kurz vor dem Anpfiff ca. zwei Dutzend Brasilianer einfielen und dann begann das Jahrhundertspiel, was wohl kein Fußballer auf der ganzen Welt je nochmal vergessen wird. Es war so unwirklich, noch vor der Halbzeit mit 5:0 in Führung zu liegen, dass ich es meiner Freundin nicht mehr erklären konnte. Sie hatte keinen Schimmer von dem Gekicke und ich versuchte, ihr die Dimension dieses Ergebnisses klar zu machen. Es war sinnlos. Das Finale sahen wir dann zu zweit vor ihrer Glotze, anstatt auf einem der vielen Feste in der Stadt, weil ich sie zum Glücksbringer erklärte. Das Glück ließ lange auf sich warten und es hätte auch andersrum ausgehen können. Wieder ging es gegen Argentinien. Es ging rauf und runter und dann kam der richtig helle Moment von Götze, als ihm Schürrle das Ding auflegte. Wir stießen stilvoll mit Crémant an, bevor ich ihr erklärte, dass mit dem nächsten Titel nicht vor 2030 zu rechnen sei. Schaun' wa' mal. Wie der Franz jetzt sagen würde.
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